The Forest - Test
"Die frische Luft wird Dir guttun", haben sie gesagt ...
Manchmal sind es die kleinsten Details, die einem signalisieren, dass man etwas Besonderes unter den Fingern hat. Ein eigentlich zu vernachlässigender, beiläufiger Einfall mit großer Wirkung. The Forest fackelte diesbezüglich nicht lange. Mitten im tiefsten, nachtschwarzen Wald stehe ich, diesmal als Überlebender eines Flugzeugabsturzes auf der Suche nach meinem Sohn, während mir gerade der Allerwerteste auf Grundeis geht.
Als wäre es bei diesen Lichtverhältnissen nicht schon schwer genug, im Dickicht einen sicheren Weg zurück zu der Lichtung nahe des Wracks zu finden, wo ich mein Lager aufzuschlagen gedenke, packt nun auch noch ein kräftiger Wind unter die Äste der Tannen und lässt die spärlichen Mondlichtschatten einen irrsinnigen Tanz aufführen.
Der ganze Wald scheint sich zu winden, um meinem Auge keinen Anhaltspunkt zur Orientierung zu geben. Mein Feuerzeug spendet ein wenig Restsicherheit, erleuchtet jedoch bestenfalls den einen Meter Raum, eineinhalb vielleicht, die mich umgeben.
In diesem Augenblick mischt sich hinter mir - oder wo auch immer - eine wirre Mischung aus Gackern und Stöhnen unter die Waldgeräusche. Meine ich zumindest. Und da passiert er, der eine ungescriptete und vollkommen von den Systemen des Spiels zehrende Moment, mit dem mir The Forest schon nach zehn Minuten direkt ins Herz grätscht.
Wie immer mal wieder geht mein Feuerzeug kurz aus, weil die Spielfigur heiße Finger bekam. Wie immer schnippt mein Überlebenskünstler wider Willen am Feuerstein. Nur dass diesmal nichts passiert. Immer noch alles schwarz. Noch einmal - "Ratsch". Wieder nichts. Drei, vier erfolglose Versuche, während ich immer schneller ins Schwarze hineinrenne, um dem Rascheln und derangierten Glucksen zu entgehen. Als mich mit dem fünften Mal die leicht flackernde Sphäre der Gewissheit wieder umgibt, spüre ich eine Halbsekunde lang Erleichterung, bevor die schiere Panik vor dem ersten Umschauen einsetzt. Ist es vielleicht schon direkt hinter mir?
War es nicht. Vielleicht war es nicht mal da. Aber darum geht es gar nicht. Mir geht es darum, dass sich ein vierköpfiges Team in Kanada die Zeit dafür nahm, selbst das Anzünden des Feuerzeugs mit einer nicht ganz hundertprozentigen Wahrscheinlichkeit auszuwürfeln, um mit Erwartungshaltungen und Urängsten ein perfides Spiel zu treiben. Ein minimales Detail mit maximaler Wirkung.
Doch auch ohne das Wissen über die bescheidenen Mittel, mit denen das hier entstand, wäre The Forest immer noch ein imponierender Titel. Elegant verknüpft es offenes Crafting- und Basenbau-Gameplay vor einer ansehnlichen, natürlichen Kulisse mit dem knallharten Survival-Drama von Neil Marshalls The Descent. Body-, Hinterwäldler- und Kannibalen-Horror trifft auf spannende Erkundung und einen befreienden Selbstverwirklichungstrip, dem nie der Zug nach vorn abhanden kommt. Nicht vergessen: Ihr wollt immerhin euren Sohn retten - und das hier ist nicht Fallout 4, wo ringsum alles andere deutlich interessanter anmutet und das zu "Komm'-ich-heut'-nicht-komm'-ich-morgen" ermutigt.
Der grundlegende Zyklus besteht aus dem Bau eines Lagers und Verteidigungsanlagen sowie Ausrüstung und anderen Mitteln zur Versorgung und anschließenden Expeditionen ins Umland und die Höhlensysteme darunter. So erfahrt ihr mehr darüber, was hier vor sich geht und wohin die Kannibalenkultur, die sich hier aufhält, euer Kind verschleppt hat. Los geht's wie eigentlich immer. Fast alles ist zunächst Holz- und Stein- und Stoffreste-basiert, allerdings wüsste ich nicht, in welchem Spiel sich 20 Meter hohes Nadelgewächs befriedigender eurer Axt ergibt. Ihr jagt Kaninchen, sammelt Blätter und Beeren, baut Häuser, Zäune (sogar Baumhäuser) aus vorgefertigten Blaupausen oder zieht mithilfe eines komfortablen und potenten Tools Böden, Wände und Treppen selbst, wenn ihr mögt.
Probleme beim Platzieren hatte ich eigentlich nie. Meine erhöhte Plattform schmiegte sich anstandslos in fünf Metern Höhe an den Stamm der einen Tanne, die ich in meinem Lager ließ. Eine Wand, die ich in Richtung eines Teichs zog, durfte ich noch bis tief ins Wasser hinein verlaufen lassen. Am anderen Ende nutzte ich unterdessen den mehrere Meter breiten Laubbaum als natürliche Barriere, indem ich meinen Wall an beziehungsweise in ihm enden ließ. Meine Holzbohlen verschmolzen einfach mit dem jahrhundertealten Koloss, unpraktische Lücken, durch die die kannibalische KI hätte schlüpfen können, ließ das Bau-Tool nicht offen. Das bekommen andere Spiele nicht oder nur weitaus fummeliger hin. Alle Achtung.
Fühlt man sich gut genug ausgerüstet, erkundet man die Insel nach Camps der Kannibalen und Eingängen zu dem gewaltigen Höhlensystem, das unter ihr verläuft. Hier, unter der Erde, wird das Spiel ein wenig linearer und schmeckt auch endgültig nach fiesem Horror, wenn ihr mit Glasscherben und ausgeschlagenen Zähnen gespickte Keulen gegen die menschenfressenden Anwohner schwingt, die euren Sohn in ihrer Gewalt haben. Wachsmalkreidebilder, Kassettenaufnahmen und anderes Indizienmaterial fällt euch ebenso in die Hände wie bessere Ausrüstung - die Taschenlampe ist ein Segen - und Zutaten für neue, lohnende Bastelunterfangen.
Eine Art RPG-System liegt unter Charakterwerten wie Kraft und Ausdauer und steigert diese passend zu eurem Verhalten. Sogar euer Körpergewicht wird dabei berücksichtigt, sodass "einfach immer alles essen, was man findet" zur Abwechslung in dieser Art Game mal nicht die beste Idee ist. Übergewichtige Spielcharaktere steigern ihre Ausdauer eben langsamer als drahtigere. Ihr solltet also darauf achten, euch ausgewogen zu ernähren. Halbwegs zumindest. Waffen aufzurüsten geschieht, wie oben schon angedeutet, über das Ausstatten des gewünschten Argumentverstärkers (Keule, Speer, Axt, Stock) mit Zähnen, Scherben, Alkohol oder Federn (letztere gewähren mehr Schnelligkeit). Das System ist funktional, allerdings auch ein Tauziehen - jedes Upgrade reduziert auch einen anderen Wert -, das nicht besonders intuitiv ist. Am Ende ist es eben doch ein Spiel, für das man ab und an einen Blick in den sehr informativen Wiki dazu wirft.
Allerdings ist diese Art von Min-Maxing in the Forest eigentlich nicht wirklich nötig. Ebenso, wie ich mich mit dem Basenbau phasenweise kaum befasste, einfach weil ich mich wieder auf die Suche nach meinem Kind machen wollte, nur um später wieder Hand anzulegen. Die Systeme sind da und auch von Vorteil, wenn man voll in sie einsteigt. Aber das Entwicklerquartett von Endnight Games lässt die Leine angenehm locker. Abgesehen von den Grundbedürfnissen, zu denen natürlich auch Bewaffnung zählt, ist hier wenig Pflichtprogramm dabei und viel freie Entfaltung.
Die KI der Kannibalen ist wechselweise beeindruckend - wenn man ganze Jagdverbände von ihnen offenbar nach euch suchend durch das Unterholz hetzen sieht, oder vereinzelte Gegner statt anzugreifen einen Baum hinaufklettern und so aus dem Blickfeld verschwinden - und ... sagen wir mal ein bisschen schmeichelhaft "passiv", wenn man sich auf ihre Aktionen hin und wieder keinen Reim machen kann oder in gewissen Kämpfen plötzlich doch stupides Draufhauen reicht. Bedrohlich wirken sie aber zu jeder Zeit, was auch im Design einiger der ... fantasievolleren Gestalten liegt. Belassen wir es dabei.
In jedem Fall gelingt es Endnight, die Kannibalenbedrohung allgegenwärtig und koordiniert erscheinen zu lassen. Eben wie eine Gemeinde, einen Stamm fremdartiger, nicht wirklich menschlich erscheinender Kreaturen. Sie sind eine Präsenz, ein großes Ganzes, das man nun stört. Sie sind alles andere als eine Aneinanderreihung für sich stehender Feinde. Die ersten Aufeinandertreffen verlaufen noch komplett harmlos. Ein paar abtastende Blicke werden ausgetauscht, dann sieht man lange nichts von ihnen, bevor man begreift, dass man beim ersten Mal eben keinen Kämpfer vor sich hatte. Und plötzlich wird man mitten in pechschwarzer Nacht geweckt, weil ein Rudel davon auf der nächtlichen Jagd über euer Lager stolpert und eine leichte Mahlzeit wittert.
Obwohl in den vier Jahren, seit The Forest in den Early Access startete, Survival und Crafting wie ein Ölteppich über dieses Medium wegschwappten und selbst bei Sonys Vorzeige-Spartaner in jede Ritze drangen, ist The Forest in seiner Zusammensetzung immer noch eine sehr ambitionierte, frische und beinahe tadellose Mischung. Klar, die Texturen schwächeln, das UI ist nicht immer auf dem Posten, die Physik spielt manchmal verrückt und lässt Gegenstände durch die Luft fliegen. Aber wie hier offenes und geführtes Gameplay zusammenkommen, das ist den Eintrittspreis allein schon wert.
The Forest ist tagsüber ein verbissen den Ranzen schnürendes Minecraft in handgemachter und oft genug idyllischer Umgebung. Des Nachts und unter Tage tut sich ein klaustrophobisches, nach nasser Erde stinkendes Outlast auf, mit großem Talent, seine Welt von sich erzählen zu lassen. Es hat lange gedauert. Aber das Darauf-Warten, dann Vergessen und wieder Entdecken dieses mysteriösen, furchterregenden und gemeinen Stück Waldes hat sich gelohnt.
Entwickler/Publisher: Endnight Games - Erscheint für: PC, PS4 - Preis: 16,97 Euro - Erscheint am: PC erhältlich, PS4: Mitte 2018 - Sprache: Englisch - Mikrotransaktionen: nein