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The Secret World - Test (Ersteindruck)

Nur Luschen tragen Plattenrüstungen, wenn sie Dämonen jagen. Echten Helden reicht Jeans, T-Shirt und ein klassenloses Fertigkeitssystem.

Entscheidungen, Entscheidungen ... Lass' ich mir in London von den Templern haufenweise Vorschriften zitieren vom Kaliber: "Kein Tanzen gegen den Uhrzeigersinn im Park"? Renne ich konfus durch urbane Labyrinthe in Brooklyn, um am Ende mit einem Kontroll-Chip der Illuminati im Schädel aufzuwachen? Oder lasse ich mir in einem Hotel der Drachen in Seoul von einer reizenden Lady das Gemächt verwöhnen, bis ich mit verdrehten Augen Visionen kriege? Alles ist möglich in The Secret World. Keine Ahnung, welchen Weg ihr bevorzugt. Ich weiß jedenfalls, bei welcher Fraktion ich anheuere. Drachen, Chaostheorie, attraktive Gespielinnen? Wo muss ich unterschreiben?

Na gut, vielleicht denke ich in zu schmutzigen Bahnen. Was, wenn euch die Lady während der Zwischensequenz nur euren Gürtel zurecht gezurrt hat? Oder weiblichen Helden die Fußnägel lackiert? Andererseits steckt Funcom hinter diesem MMO. Und schon in Age of Conan gingen die Entwickler aus Oslo nicht gerade zimperlich zu Werke. Die Leute sind eindeutig Spezialisten für Erwachsenen-Ware.

Egal, welche Fraktion ihr wählt: Bis auf subtile Unterschiede verlaufen die Karrieren eurer übernatürlichen Kämpfer auffallend parallel. Das beginnt schon bei den Outfits, aus denen ihr während der Charaktererstellung wählen dürft. Die sind für alle Fraktionen identisch und die Auswahl ist darüber hinaus mau. Im Spiel und im Cashshop gibt es später mehr. Die restlichen Optionen des Charaktereditors sind ebenfalls ein wenig dürftig. Ihr entscheidet euch zwischen Männlein oder Weiblein, eine Handvoll Regler für die Gesichtspartien erlauben durchschnittlich sieben Einstellungen, der Körperbau ist fix vorgegeben. Schade.

The Secret World - Entwicklertagebuch: Charakterentwicklung

Die Einstiegssequenz, in der euch eine verzauberte Biene während eines Nickerchens magische Kräfte verleiht (kein Witz) ist ebenfalls für alle Parteien identisch - wenn man mal von den geheimnisvollen Besuchern absieht, die ein paar Tage später an eure Tür klopfen, um euch für die jeweilige Seite zu rekrutieren. Hier geht der Punktsieg wieder an die Drachen, denn die beten nicht irgendwelche Werbebroschüren runter wie ihre Konkurrenz. Ein Mönch steht in eurer Tür, legt euch einen Finger an die Stirn, Blitz, Blackout, und eine Sekunde später steht ihr verdattert auf der Straße. Als Nächstes arbeitet ihr euch zum Hauptquartier eurer gewählten Fraktion vor. Den Weg findet ihr entweder durch dezent flatternde Schmetterlinge, hilfreiche Passanten, Graffiti oder andere Hinweise. Unterwegs erfahrt ihr eine Menge über den Konflikt zwischen den drei Geheimbünden und die Hintergrundgeschichte. Dann steht ihr vor den besagten NPCs, die euch in eine Tutorial-Traumsequenz nach Tokyo versetzen. Mittels Hypnose, Chirurgie oder intimer Praktiken - wobei, wie gesagt, euer Geschlecht in letzterem Fall pikanterweise keine Rolle spielt.

Das Tutorial bietet eine erste Kostprobe des Kampfsystems, an das sich selbst routinierte MMO-Tester erst gewöhnen müssen. Der Eindruck schwankt zwischen toll und tapsig. Einerseits bietet das klassenlose Fertigkeitssystem unerhörte Freiheiten. Aus einem ringförmigen Menü darf ich nach Lust und Laune meine Fähigkeiten auswählen und zwei Waffen-Spezialisierungen gleichzeitig miteinander kombinieren, indem ich in jeder Hand das entsprechende Tötungswerkzeug trage. Theoretisch kann ich alle Waffenstile perfektionieren und dann jederzeit nach Bedarf meinen Build wechseln. Die Kraft-Punkte (KP) und Fähigkeit-Punkte (FP), die man in Skills und Waffenfähigkeiten investiert, verdienen sich zügig über Quests oder Monster-Massaker. Schnell hat man einige mächtige Manöver in petto. In der Spielwelt wimmelt es schon jetzt von schwertschwingenden Pistoleros, Blutmagiern mit Vorschlaghämmern oder Elementarzauberern mit Sturmgewehr. Da ihr allerdings nur sieben aktive und sieben passive Fertigkeiten gleichzeitig ausrüsten könnt, ist kreatives Denken gefragt. Bei sinnvollen Kombinationen sind übermächtige Synergie-Effekte drin, die im späteren Spielverlauf immens an Bedeutung gewinnen. Freiheit, Vielfalt und Taktik. Das lob ich mir.

Was mir weniger gefällt, ist die Steuerung während der Scharmützel. Hier braucht ihr zwar nicht aktiv zu zielen, sondern schaltet ein Monster auf und hämmert wie gewohnt auf eure Zahlentasten, aber auf den Feind ausrichten müsst ihr euren Charakter trotzdem manuell. Dass sich der Recke nicht automatisch zum ausgewählten Bösewicht dreht, wird in Massenschlachten häufiger zum Problem, denn mit den Pfeiltasten dirigiert es sich ein wenig hakelig. Da haben Nahkämpfer mit wirkungsvollen Rundum-Schlägen einen Vorteil. Viele Anfänger laufen wahrscheinlich deswegen als Schwertkämpfer herum. Seid ihr hoffnungslos von Feinden umzingelt, hilft nur noch ein Fluchtmanöver per schnellem Doppeldruck auf eine Richtungstaste, gefolgt von einem Sprint oder wilden Drehmanövern zum Gegner. In der Praxis klappt das mit ein bisschen Gewöhnung, aber komfortabel ist was anderes.

Zudem überfordern einen die vielen Menüs im blütenweißen iPod-Stil voller abstrakter Symbole anfangs ein wenig. Statt wie gewohnt euren Avatar im Charakterfenster wie eine Kleiderpuppe mit Rüstungsteilen und Waffen anzuziehen, klickt ihr farbige Icons in irgendwelche Slots. Das Interface wirkt dadurch übertrieben stilisiert und unpassend steril. Andererseits ist es extrem anpassbar. Euer Inventar könnt ihr zum Beispiel in Unter-Fenster aufteilen und diese auf den Bildschirm pinnen, um schneller auf Gebrauchsgegenstände zuzugreifen.

Viel Fantasie beweist Funcom bei den Quests. Nach dem Tutorial und eurer Waffenauswahl werdet ihr per interdimensionaler Reise über die Äste des Weltenbaums nach Kingsmouth auf Solomon Island geschickt. Das Gebiet erinnert nicht von ungefähr an die verschlafene Küstenstadt Innsmouth von H.P. Lovecraft. Ein unheimlicher Nebel hat den Ort eingehüllt, Zombies jagen die Lebenden, Monstrositäten schlurfen am Strand herum. Ein Urlaubsparadies für Okkultisten und Teufelsanbeter also. Dabei gilt: egal welche Fraktion, egal welche Bewaffnung, die Quests sind für alle gleich. Die Parteien laufen munter durcheinander, greifen sich gegenseitig unter die Arme und questen friedlich nebeneinander her.

Euer Begrüßungskomitee in Gestalt des "letzten Cowboys" Boon resultiert in eurer ersten richtigen Quest, in der ihr bereits einen kleinen Vorgeschmack auf die Kreativität der Entwickler erhaltet. Der Viehtreiber trägt euch eine Liste von Dingen auf, die man während einer Invasion der Untoten eigentlich meiden sollte. Auf Autos herumhüpfen, bis der Alarm losgeht, zum Beispiel. Oder Benzinkanister anzünden und als lebende Beute die blutrünstige Meute in die Flammen locken. Oder Leichen anstupsen, bis das Ungetüm auftaucht, welches vorher an ihnen herumgeknabbert hat. So verkürzt ihr euch den Weg zum Büro des Sheriffs, in dem sich einige überlebende Dorfbewohner verschanzt haben.

Die Questgeber sind überall in den Einsatzgebieten verstreut und die Aufträge in ihrem Angebot sind erfreulich abwechslungsreich. Ab und zu seid ihr als Jäger und Sammler unterwegs, wobei diverse Rätsel zum Nachdenken zwingen. Einmal musste ich mich an neugierigen Überwachungskameras vorbei schleichen, um eine Laserfalle zu deaktivieren, ein anderes Mal suchte ich den Zahlencode für ein Geheimversteck in einer Kirche. Dann wieder sollte ich einen Verletzten eskortieren oder flatternden Krähen folgen, Vorräte sammeln, nach Überlebenden suchen oder ich war mit einer ausufernden Recherche beschäftigt.

Vor allem solche Investigativ-Quests haben es in sich. In diesen sucht ihr mit ein paar vagen Hinweisen im riesigen Einsatzgebiet nach geschickt versteckten Brotkrumen, die euch zur Lösung führen. Mal werdet ihr auf der Übersichtskarte fündig, mal hilft der ins Spiel integrierte Browser bei euren Nachforschungen. Oft genügt es, einfach nur sehr genau hinzuhören, um die richtige Spur zu finden. Wenn eine alte Frau von einem Mord erzählt, der groß in den Zeitungen kam, erfahrt ihr vermutlich im Archiv des Lokalblattes mehr darüber. Doch hunderte Schubladen zu durchwühlen, um den richtigen Papierschnipsel zu finden, ist mühsam. Wann war noch mal der Mord passiert? Hatte die Oma August 2002 oder 2003 gesagt? Und wer war der Täter? Vielleicht hilft der Computer im Büro des Sheriffs weiter?

Auch das Crafting wird stilecht per Nebenquest eingeführt. Im Prinzip funktioniert das System wie bei den Kollegen von Minecraft. Ihr zerlegt Waffen und Ausrüstung in Bausteine und platziert diese wiederum in einer bestimmten Form im Crafting-Fenster. Schwupps macht ihr aus einem mittelmäßigen Schießprügel ein ausgezeichnetes Schwert. Glyphen zum Sockeln werden auf die gleiche Weise hergestellt. Schön, dass ein solches System auch mal außerhalb der Klötzchenwelt zum Einsatz kommt.

Was aber ist die Quintessenz aus den ersten Stunden im neuen Mystery-MMO? Ehrlich gesagt hatte ich mir von The Secret World mehr erhofft. Mehr Geheimnisse, mehr Überraschungen und eine Geschichte, die mich von der ersten Minute in die Tiefen des Kaninchenbaus entführt. Stattdessen werde ich ständig mit der Nase drauf gestoßen, ein MMO zu spielen. Die Narration wird zerstückelt durch viele kleine Quests, zwischen denen sich nur selten ein roter Faden spannt. Da frag ich mich, was wohl ein Warren Spector aus der Vorlage gemacht hätte. Freilich bin ich noch nicht allzu weit in die Hauptstory vorgedrungen. Der Anfang ist jedenfalls etwas verworren, wobei die deutsche Vertonung nichtsdestotrotz einen sehr guten Eindruck hinterlässt.

Das nüchterne Interface macht es zusätzlich schwer, sich in diese mystische Welt hinein zu versetzen (mit Ausnahme der Übersichtskarten im stimmigen Touristenführer-Look). Für meinen Geschmack trägt das Spiel seine Mechanik mit all ihren Prozentwerten und Statistiken etwas zu offen zur Schau. Das passt nicht so ganz zu einem Szenario voller Verschwörungstheorien und übernatürlichem Hokuspokus.

The Secret World - Trailer

Zudem dürft ihr fast alle Quests täglich wiederholen, wodurch sie storytechnisch jede Relevanz verlieren. Die Missionen erinnern dadurch mehr an die Versuchsanordnungen aus "Portal" als an ein zusammenhängendes Abenteuer. Die Aufgaben sind clever und durchdacht, aber viel zu sehr in sich abgeschlossen - das große Ganze kommt dabei zu kurz. Ich hoffe, dass die Story im weiteren Verlauf anzieht und die Macher ähnlich viel Grips in den Plot gesteckt haben wie in die kleinen Neben-Quests.

Trotzdem muss ich vor Funcom den Hut ziehen. In Sachen Ideenvielfalt macht ihnen keiner was vor. Derart komplexe und abwechslungsreiche Missionen sucht man bei der Konkurrenz vergeblich. Zwar knirschen KI und Wegfindungsroutinen manchmal oder es hakelt während gescripteter Ereignisse, bisweilen zünden auch die Trigger nicht, wie sie sollen. Aber vom Grundgedanken her sind die Quests extrem innovativ und machen reichlich Spaß. Dazu kommt ein erfrischend kruder Humor und einige Anspielungen für Kenner. Spontane Lachsalven nicht ausgeschlossen.

Die Fokussierung aufs Gameplay dürfte besonders im Endgame fruchten, wenn ihr sowieso schon alles gesehen habt und euch die Story nicht mehr juckt. Vor einem Raid mit den verschiedenen Builds zu jonglieren oder in den Fraktionskriegen mitzumischen, bietet eine Menge Unterhaltungs-Potenzial. Das macht The Secret World zu einem kleinen Garten Eden für Gruppenspieler und abgebrühte MMO-Zocker, die zwar selten Missionstexte lesen, aber trotzdem nicht auf herausfordernde Quests verzichten wollen. Ob Verschwörungsfanatiker und Storyfetischisten dabei langfristig auf ihre Kosten kommen und eine spannende Geschichte voller Geheimnisse erleben, muss sich noch zeigen - ich habe nach den ersten Stunden noch leise Zweifel daran, wobei ich mich gern eines besseren belehren lasse. Beim nächsten Test gehe ich darauf ausführlicher ein. Sobald die ganzen Haupt- und Nebenquests erledigt sind, muss vor allem der Endgame-Content passen. Mal sehen, wie dann die Raid-Instanzen, PvP und Fraktionskriege in die Bresche springen. Wer selbst in die geheimnisvolle Welt eintauchen möchte, muss derzeit grob 40 Euro anlegen und erhält dafür 30 Tage Spielzeit inklusive. Die Abokosten liegen zwischen 13 und 15 Euro im Monat.

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