The Sercret World - Vorschau
Immersion wird überschätzt
Eigentlich war Funcoms "The Secret World Immersion Event" in Oslo glatter Etikettenschwindel. Freilich bleibt bei so einer Veranstaltung selten die Zeit, sich wirklich in eine Spielwelt hinein versetzt zu fühlen und der gezeigten Fassung des MMOs fehlte noch einige Politur. Trotzdem ist es paradox, wenn bei einem "Immersion Event" ausgerechnet die Immersion zu kurz kommt. Aber habe ich sie vermisst? Erstaunlicherweise nicht. Dafür war die Spielmechanik zu interessant.
Der Test begann mit einem kleinen Dämpfer. Der Charaktereditor war noch außer Betrieb und die Illuminati-Fraktion fest vorgegeben. Im fertigen Spiel habt ihr die Wahl zwischen drei Fraktionen (Illuminati, Dragoon, Templar) und dürft euren Recken mittels Schiebereglern ziemlich frei gestalten. Klamottentechnisch wird im Editor nicht viel geboten - hier kann man später im Spiel dann mehr Auswahl finden. Bei einem späteren Rundgang durchs Entwicklerstudio konnte man dann doch einen kleinen Blick auf den Charaktereditor erhaschen und sah erstaunlich nackte Tatsachen. Wer dieses "Feature" aus Age of Conan schätzt, darf aufatmen: Im Gespräch bestätigte Lead Designer Joel Bylos, dass weibliche Charaktere auch ohne Top zu sehen sein werden.
Nach einer kurzen Einleitungssequenz in Spielgrafik, in der mein Charakter seine übernatürlichen Fähigkeiten entdeckt, wurde ich auf die Straßen von Brooklyn losgelassen. Dort sollte ich - quasi als Einstellungstest - die Basis der Illuminati finden. Was nach einer spannenden Schnitzeljagd klingt, war dank der deutlichen Markierungen auf der Übersichtskarte schon nach wenigen Minuten gelöst und selbst durch das eingeschobene Labyrinth in der Basis wird man mit aufdringlichen Graffiti-Pfeilen geschleust. Ob das so ein toller Geheimbund ist, wenn man schon nach zehn Minuten Suche im Hauptquartier steht? Dort landet ihr jedenfalls auf dem OP-Tisch eines schrulligen Doktors und halluziniert während der folgenden Operation von einer Mutanten-Zombie-Invasion in Tokio. Nebenbei lernt ihr das Kampfsystem besser kennen. Mit frisch implantiertem Chip im Rückgrat scheucht man euch als Nächstes durch einen Simulationsraum, in dem ihr die drei Waffen-Varianten des Spiels (Nahkampf, Fernkampf, Magie) und einige Fähigkeiten ausprobieren dürft. Die hier gewählte Ausrüstung behaltet ihr gleich an und steht schließlich eurem vorläufigen Boss Kirsten Geary gegenüber. Die platinblonde Lady schickt euch nach einer kurzen Zwischensequenz nach Solomon Island auf eure erste große Mission.
Wirklich gepackt hat mich die Atmosphäre in dieser ersten halben Stunde kaum und auch bei der zweiten Testrunde in Ägypten nahm mich das Setting nicht so recht gefangen. Das lag natürlich auch daran, dass ich aufgrund der begrenzten Spielzeit über die Missionstexte bügelte und den Zwischensequenzen der Kontext einer großen Rahmenhandlung fehlte. Bei näherer Betrachtung war aber vor allem das Spieldesign die Ursache. The Secret World trägt seine zugrundeliegende Mechanik extrem offen zur Schau. Da wären zum Beispiel das geradezu klinisch saubere User Interface oder das innovative, aber sehr statistik-lastige, klassenlose Fähigkeitssystem. Um eure Statuswerte aufzubessern, rüstet ihr sogenannte Chakras aus, die der jahrhundertealten Hindu-Lehre entsprechen. Doch selbst dieses esoterische Feature schaut in der aktuellen UI aus wie eine Tabellenkalkulation für das iPad. Der einzige Ausreißer dieses sterilen Looks sind die zerrissenen Touristen-Faltpläne, die ihr statt einer typischen Übersichtskarte in Satellitenoptik vorgesetzt bekommt.
Alle Quests wurden mit hervorragenden Sprechern vertont und in Spielgrafik inszeniert - anders als bei Age of Conan, wo das nur auf der Tutorial-Insel Tortage der Fall war. Wirklich düster oder verschwörerisch geht es hier allerdings nicht zur Sache. Stattdessen ist schräger Humor angesagt und die Charaktere nehmen sich gerne selbst auf die Schippe. Da philosophiert ein Zombie mit britischem Akzent und weißem Leinenanzug über Sterblichkeit oder ein Typ mit 70er-Brille und Tarnklamotten spult das halbe Tanzrepertoire von MC Hammer ab, bevor er euch den Sprengstoff für eine Sabotagemission überreicht. Wenngleich die Hintergrundgeschichte des Spiels noch im Dunkeln liegt: Ein bierernstes Verschwörungsepos der Marke Deus Ex wird The Secret World definitiv nicht werden.
Das Spiel punktet, sobald man sich vom Immersions-Gedöns löst und sich intensiver mit der Spielmechanik und dem Interface beschäftigt. Die Jungs und Mädels bei Funcom haben hier einiges an Gehirnschmalz investiert. Zum Beispiel könnt ihr euer Inventar in kleinere Fenster unterteilen und diese auf dem Bildschirm festpinnen - extrem praktisch, um immer seine Verbrauchsgüter griffbereit zu haben. Missionen werden einfach per Drag & Drop mit anderen Spielern geteilt. Außerdem ziehe ich meinen Hut vor dem freien Fähigkeitensystem, das jedem Bastler das Wasser in die Backen treibt. Aus über 500 Skills dürft ihr sieben aktive Manöver gleichzeitig auf eure Zifferntasten legen, dazu kommen noch sieben passive Fähigkeiten. Weil man bei derart vielen Kombinationsmöglichkeiten schnell ins Schwimmen gerät, könnt ihr euch an einigen Vorlagen orientieren. Diese "Decks" entsprechen den klassischen Rollen aus anderen MMOs, zum Beispiel Nahkampf-Tank oder Fernkampf-AoE-Spezialist. Wenn ihr selbst eine gelungene Kombination gefunden habt, könnt ihr diese per Gear Manager als Vorlage abspeichern und sogar mit anderen Spielern teilen. Joel Bylos von Funcom beschwichtigte im Gespräch die Sorge, dass im PvP-Endgame nur ein oder zwei Builds effektiv sein könnten - jede Fähigkeit besitzt einen Konter.
Mit genügend Sitzfleisch könnt ihr alle 500 Fähigkeiten mit einem einzigen Charakter lernen. Dabei kommt euch entgegen, dass ihr beinahe jede Mission täglich wiederholen dürft und dass ihr immer die gleiche Anzahl an Erfahrungspunkten erntet. Das klingt nach massivem Grinding - mal sehen, ob das im fertigen Spiel durch genügend Missionen abgefangen werden kann. Die Skills der drei Schadenstypen Nahkampf, Fernkampf und Magie findet ihr fein säuberlich sortiert im sogenannten Ability Wheel, das sich aus einem inneren Ring für Grundfähigkeiten und einem äußeren Ring für Waffenspezialisierungen zusammensetzt. Jede Fähigkeit kostet unterschiedlich viele Fähigkeitspunkte, die ihr durch das Füllen eures Erfahrungsbalkens verdient. Nur mit der passenden Waffe in der Hand dürft ihr die jeweiligen Fähigkeiten aus dem Ability Wheel einsetzen. Da jeder Charakter zwei Metzelwerkzeuge gleichzeitig tragen darf, werden interessante Kombinationen verschiedener Schadenstypen und sogar Synergie-Effekte möglich.
Das Kampfsystem ist schnell und direkt und kommt ohne global Cooldown aus. Dabei müsst ihr euch aktiv in Richtung der Feinde positionieren und in Bewegung bleiben, um ihren Angriffen auszuweichen - Tempo ist angesagt. Wer ins Gras beißt, erscheint als Geist an einem Rücksetzpunkt und kann entweder zu seinem Leichnam pilgern oder sich vor Ort wiederbeleben.
Ziemlich abwechslungsreich hat Funcom die Quests in The Secret World gestaltet. Fast jeder NPC hat mehrere Missionsvarianten in petto. Dabei dürfte aber immer nur eine Storymission, eine Action- und eine Nebenmission gleichzeitig aktiv sein. Mal abgesehen von den üblichen "erschlage Viecher und sammle Zeugs"-Quests hatte es mir beim Herumstreunen in Ägypten vor allem eine Investigativ-Mission angetan, bei der man Spuren in der Umgebung folgen muss, um sich dann in einen Bürocomputer zu hacken. Das Passwort sollt ihr anhand eines Hinweises über den ins Spiel integrierten Browser suchen. Dabei wird nicht etwa eine Pseudo-Suchmaschine eingeblendet, sondern das echte Google. Eine Schleichmission, die ich später ausprobierte, verlief weniger glücklich. Eigentlich sollt ihr dabei ein Wasserwerk mit ein paar gut deponierten Sprengladungen einäschern. Leider war der Sichtradius der Gegner viel zu groß und man kam kaum an den Wachposten vorbei. Als die Bomben platziert waren, startete ein Kontrolleur seinen Rundgang, den man aufhalten sollte, bevor er die Sprengsätze entdeckt. Das war kaum möglich, ohne die Wachen in der Umgebung zu alarmieren. Allein war die Quest daher kaum zu schaffen.
Der letzte Ausflug des Events führte in den Gruppen-Dungeon "The Ankh". Hier sollt ihr mit vier Kollegen den verrückten Nazi-Wissenschaftler Doktor Klein ausschalten, der mithilfe einer schwarzen Brühe namens Filth Mumien und Mutanten zum Leben erweckt. Vor allem die Zwischenbosse hatten hier einige fiese Tricks drauf. Da gibt es Priester mit violetten Energiekugeln, die sich an euch heften und eure Fähigkeiten blockieren, ein riesiges Ungetüm namens Colossus Melothat, das euch unter seinen Füßen zu Brei zerquetscht oder den Doktor persönlich, der euch mit seinen Energiewellen von einer schmalen Brücke schubst. Selbst ohne der zugrundeliegenden Story viel Beachtung zu schenken machte der Dungeon einigen Spaß und man spürte deutlich, wie die verschiedenen Ausrichtungen der Charaktere miteinander harmonierten.
Wenn es um solide Spielmechanik geht, hat The Secret World einen Sack voll frischer Ideen zu bieten. Vor allem das klassenlose Fähigkeitensystem dürfte passionierte Build-Jongleure einige Zeit beschäftigen. Die Hintergrundgeschichte und das Ambiente wirkten beim Anspielen weniger dicht gestrickt als beim MMO-Handlungs-Primus Star Wars: The Old Republic, dafür waren die Missionen abwechslungsreicher und die skurrilen NPCs unterhaltsamer. Objektiv beurteilen ließ sich die Qualität der Handlungsstränge für die drei Fraktionen natürlich nicht. Hier wird man sich bis zum Start der Beta und dem Release am 19. Juni 2012 gedulden müssen. Wenn Funcom den angedeuteten Weg konsequent verfolgt, dürfte das neue MMO vor allem im Endgame-Bereich auftrumpfen, wenn sich Hardcore-Zocker längst nicht mehr um die Story scheren, sondern sich auf ihre Builds konzentrieren.
Korrektur: Die Aussage, dass Funcom mit dem Verkauf von Skins und Kleidung Geld verdienen möchte, stimmte nicht - auch wenn der Entwickler zu unserer Ehrenrettung von einem "Shop" sprach. Gemeint war aber, dass ihr mit in Missionen verdienter Ingame-Währung weitere Stücke erwerben könnt.
The Secret World erscheint am 19. Juni.