The Tomorrow Children macht einen einzigartigen ersten Eindruck
Alles für das Kollektiv! Sonst gibt es ja auch nichts mehr…
Selten so ein seltsames Spiel gespielt. Und das meine ich auf eine gute Art, denn Tomorrow Childrens gar nicht kalkuliert wirkende Verschrobenheit macht den größten Teil seiner Faszination aus. Nichts sieht auch nur annähernd so aus wie das hier. Schön, aber doch düster. Wie anfassbar in seinen Materialien, aber surreal verschwommen. Und über allem liegt ein Gefühl stutzig machender Unwirklichkeit, das man in der Form noch nicht erlebt hat.
Seine eigentlichen Mechanismen sind dabei punktgenau am Puls der Zeit. Ich beschrieb Q Games' exklusiven PS4-Free-to-play-Titel, der diese Woche mit dem "Early Access Founders Pack" einen verfrühten, aber bezahlpflichtigen Start für vorab Interessierte hingelegt hat, ja schon in der letzten Vorschau vom März als "Mischung aus Animal Crossing und Minecraft". Das entspricht auch heute noch, nach mehreren Stunden mit der mehr oder weniger finalen Version (so final wie es bei dieser Sorte fortlaufender Entwicklung eben geht), meinem Empfinden.
Ihr buddelt euch durch Erdformationen, baut Bodenschätze ab und eine Stadt wieder auf, um sie nach und nach mit Bewohnern zu füllen. Das Universum, in dem das geschieht, dürfte eines der spannendsten sein, die einem in der jüngeren Vergangenheit untergekommen sind: Die Spieler befinden sich im Void, einer Art Post-Sowjetischem Jenseits, einer schummrigen Leere auf trübem Plexiglas. Das ist alles, was nach einem Experiment der Genossen aus der UDSSR noch übrig ist. Nun, das und die Projektionsklonen der Spieler, die in Form von handgeschnitzten Holzpüppchen versuchen, hier so etwas wie eine Zivilisation wieder aufzubauen. Hand in Hand und mit harter Arbeit.
Da die Spieler-Avatare aber genau genommen eben nicht lebendig sind, müssen sie sich auf die Suche nach Matrjoschkas machen, jenen getöpferten Püppchen, in denen die Seelen der Menschen nach dem fehlgelaufenen ultimativen Sozialismusunfall reglos ihr Dasein fristen. Findet sie und "wiederbelebt" sie in der Stadt, damit sie sich - ebenfalls als russische Pinocchios - dem bunten Treiben in der diesigen Siedlung anschließen. Jede Stadt beginnt klein und gilt erst als vollendet, wenn ihr 500 "Menschen", oder wie man ihre Zerrbilder in dieser (alb)traumhaften Zwischenwelt nennen soll, gefüllt habt.
Der Ablauf ist im Grunde von der recht konstanten, zyklischen Sorte. Periodisch tauchen am Horizont dieser gähnenden Leere neue "Inseln" auf, ausgefallene Formationen in Gestalt von riesigem Sushi, aus der Erde sprießenden haushohen Füßen oder gewaltigen kubistischen Installationen. Als hätten sich die Illustratoren von Monty Python mit Pablo Picasso zusammengetan, um osteuropäischer Folklore ein Denkmal zu zimmern. Jede dieser Formationen lässt sich mit Werkzeugen von Spitzhacke (Tunnel geradeaus), Spaten (Treppen rauf oder runter) oder Kettensäge (senkrecht in den Boden) abbauen. Einige Objekte sind von Höhlen durchzogen, in denen man Gold, Kohle oder Kristalle findet, sowie in Kisten versteckte, mitunter bessere Werkzeuge (bei denen es sich nach bester Free-to-play-Manier um Verbrauchsgegenstände handelt). Und eben Matrjoschkas.
Während man fast alles schadlos auch von einem hundert Meter hohen Felsen werfen kann, damit es die anderen Spieler unten in die Ladezone für die stets zwischen Stadt und Insel pendelnde Bus/Laster-Kombination schleppen können, sind Matrjoshkas sehr zerbrechlich. Hier gilt es, Mittel und Wege zu finden, sie schadlos nach unten zu befördern. Der Regenschirm bremst zum Beispiel euren Fall, eine Strickleiter führt ebenfalls risikolos nach unten. Und wenn es nicht anders geht, buddelt man sich eben hinunter. Es ist beachtlich, wie sich in Tomorrow Children im Grunde Alltägliches - ja, Arbeit - eigentlich,anfühlt wie eine kollektive Unternehmung. Alle ziehen an einem Strang, jeder gibt alles für das Erreichen des gemeinsamen Ziels der magischen 500. Regelmäßig bilden sich geradezu Ketten von Spielern, die eine wertvolle Ware mit geschickten Würfen von einem Helfer zum nächsten und vom Abbauort zur Ladezone befördern.
In der Stadt selbst errichtet man nach und nach neue Gebäude. Eine eigene Residenz im Dixie-Klo-Format, die in erster Linie als Kleiderschrank zum Wechseln eurer Outfits fungiert, Wohn- und Apartmenthäuser, um nach und nach das Bevölkerungslimit zu steigern, Geschütztürme zur Verteidigung, sowie Einrichtungen, die den Propagandawert, die Technologie und die Kultur des Örtchens steigern. Natürlich setzt einem der Aufbau die üblichen Limits. Man muss auf einem Laufband Strom erzeugen (durchaus kurzweiliges Minispiel), verbraucht intervallweise Nahrung und neue Gebäude erfordern natürlich auch Ressourcen.
Um all das überhaupt herzustellen, tretet ihr an eine Fertigungsmaschine heran - es gibt ein "Anstellen"-Feature, falls mehrere Spieler auf einmal ranwollen - und müsst ein Schiebepuzzle lösen, um das Bauobjekt zu erhalten. Hier kommen erste Free-to-play-Beschleuniger ins Spiel, die auf Knopfdruck und gegen die Echtgeldwährung Freiheitsdollar das Rätsel für euch lösen. Ich mag diese Art Denkaufgaben allerdings und hatte bisher nicht das Bedürfnis, mir das Spielen gegen einen Obolus abnehmen zu lassen. Auch abstraktere und eher dekorative Formationen könnt ihr aus der Erde sprießen lassen, allerdings kauft ihr diese an einem der Verkaufsstände. Aber all diese Sachen ersteht ihr mit Mühepunkten, die ihr für eure Mithilfe beim Aufbau bekommt. Lediglich die besseren Versionen aller angebotenen Werkzeuge bezahlt ihr mit Realwährung auf dem Schwarzmarkt. Auch hier gilt: Es sind reine Beschleuniger und weil man auch so häufiger mal ein paar Freedom Dollar auf dem Boden findet, ist das bisher alles noch nicht allzu intrusiv oder nervig.
Auch eure Spielfigur rüstet ihr nach und nach auf, steigert Tragkraft, Waffenstoppwirkung, Tapferkeit (damit die Projektion die tödliche Dunkelheit länger übersteht), Patriotismus und Beweglichkeit und erwerbt nach und nach Lizenzen, um neue Dinge zu tun, etwa ein selbst gebautes Fahrzeug zu führen, anstatt immer nur Bus fahren zu müssen. Bei all der Arbeit gibt sich Tomorrow Children aber jederzeit ziemlich verspielt. Die einzelnen Formationen zu erklimmen, fühlt sich gut an, fast wie in einem Jump-and-Run. Und wenn man noch Sprit im Jetpack-Tank hat, macht auch das Fliegen ziemlich viel Spaß. Schade ist dagegen ein bisschen, dass man den Abbau von Rohstoffen und Formationen nur einleitet und dann der Figur beim Hämmern, Schaufeln, Sägen zuschaut. Hier wäre ebenfalls ein etwas einnehmenderes Handling für die Werkzeuge wünschenswert gewesen. Denn mit Jetpack und Bazooka geht es ja auch.
Ach ja, apropos Bazooka: Die Kaijus, also Riesenmonster, die permanent durch den Void stapfen und ab und an die Stadt angreifen, hatte ich noch nicht erwähnt, oder? Mit Raketenwerfern und Geschütztürmen ballert man Worms-artig mit anpassbarer Geschoss-Flugbahn auf die Riesenbiester, die nach ihrem Ableben selbst zu abbaubaren Hügeln werden. Die Schrotflinte gegen die häufig etwas nervigen Mückenmonster ist aber Mist und der Nahkampf gegen sie gibt leider auch kein angemessenes Feedback. Aber Tomorrow Children ist eben auch kein Kampfspiel und die Entwickler werden bei entsprechendem Erfolg sicher noch den einen oder anderen Blick auf derart verbesserungswürdige Aspekte werfen.
Was ich bisher noch etwas bedauerlich finde, ist der Umstand, dass man sich direkt zur nächsten Stadt aufmacht, sobald die 500 Einwohner erreicht sind und auch eine Rückkehr offenbar nicht vorgesehen ist. Diese Art Vergänglichkeit passt zwar zur drollig-trostlosen Stimmung, könnte die kreativen Ambitionen der Spieler aber zügeln. Warum viel Arbeit in ausgefallene Skulpturen stecken, wenn man sie eh nicht wiedersieht, sobald die Stadt fertiggestellt ist?
Aber ansonsten: Ja, mir gefällt Tomorrow Children bislang ziemlich gut und ich werde es gespannt weiterverfolgen. Ein abschließendes Urteil heben wir uns - wie bei den meisten Online-Titeln - für einen späteren Zeitpunkt auf, wenn sich die Bezahlmechanismen eingegroovt haben, die ersten Updates draußen und mehr Spieler online sind. Q Games' herausfordernd sinistre Übung in Ostblock-Niedlichkeit gibt sich in so vielerlei Hinsicht vage, dass es eine Freude sein wird, dabei zuzuschauen, wie sich ein breiteres Spielerpublikum über das Spiel ergießt, wenn in nicht allzu ferner Zukunft der Free-to-play-Schalter umgelegt wird.
Unterm Strich ist Tomorrow Children sichtlich kein Spiel für jedermann, aber wofür, wenn nicht für gewinnend eigenständige Experimente wie dieses ist das Free-to-play-Modell schon gemacht? Wer es ausprobiert, hat nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Zum Beispiel ein Spiel mit einer eigenständigen Vision und einem beneidenswert unbequemen Sinn für Stil.
Entwickler/Publisher: Q Games/Sony - Erscheint für: PlayStation 4 - Preis: aktuell im Early Access Founders Pack 19,99, später Free-to-play - Erscheint am: Erhältlich - Sprache: Deutsch, Russisch und andere - Mikrotransaktionen: Ja, free-to-play: Beschleuniger, bessere Werkzeuge. Das Founders Pack ist hier erhältlich!