The Touryst - Test: Die Switch-Überraschung des Jahres kommt aus München!
Der dringend benötigte Sonnenschein in der grauen Jahreszeit.
Wer Fast RMX auf der Switch kennt, der weiß, dass die Münchener von Shin'en technisch einiges auf dem Kasten haben. Tatsächlich bewiesen sie mit ihrem kompromisslos auf 60fps gebürsteten Future-Racer ein derart gutes Händchen, dass seit einer ganzen Weile nicht gerade wenige Leute danach schreien, diesen Leuten doch bitte die F-Zero-Lizenz anzuvertrauen. Das, was dem kleinen Team in Sachen Charme und visuellem Flair bislang fehlte, könnte Nintendo dann im Rahmen einer Kooperation immer noch beisteuern.
Und jetzt ist da The Touryst und man ist sich nicht mehr sicher, ob Shin'en diese Hilfe überhaupt noch nötig hätte, denn meine Güte, ist das ein hübsches Spiel. Also im gestalterischen Sinne. Dieser Look, der Minecraft-artigen Kubismus mit lebensnaher Detaildichte, realistischer Beleuchtung und hoher Plastizität und Körperlichkeit vereint - diese Sonnenstrahlen, diese dynamischen Lichter, diese Reflexionen und Spiegelungen! - ist einfach fabelhaft.
Natürlich tut die Technik ihren Teil dazu bei, felsenfeste 60 Bilder pro Sekunde, schön saubere Optik, ohne allzu auffällige Auflösungsskalierung bekommt man auf dieser Konsole nicht alle Tage. Aber das Gesamtbild, das The Touryst abgibt, ist das eines beneidenswerten Grades an Politur und Herz, über den unser Digital-Foundry-Kollege John Linneman in seinem Videobeitrag alles sagt, was man darüber sagen kann. Für mich ist es schlichtweg eines der bestaussehendsten Spiele auf der Nintendo Switch.
Worum es spielerisch geht? Damit hält The Touryst Mal um Mal hinterm Berg. Als normaler Tourist kommt ihr auf einer kleinen Insel an und genießt zunächst mal das exzellente Karibikflair und die Sehenswürdigkeiten in Form uralter Ruinen und Steingebilde. Ihr schnackt mit Einheimischen und Mit-Touristen, bekommt schon eine Ahnung von der einen oder anderen kleinen Aufgabe in Form von diversen Gefallen, die ihr anderen tun könnt, und kauft im Souvenirladen eine Anleitung, die euch die Fähigkeit verleiht, euch an Kanten hochzuziehen oder leistet euch eine Fotokamera. Hier und da deuten ein paar versteckte Goldmünzen an, dass dies die Sorte Erkundungsspiel ist, bei der man gern hinter jeden Stein schaut - und dann tut sich ein großes Rätsel vor euch auf, dessen Lösung euch die folgenden etwa acht Stunden über eine Reihe unterschiedlicher Inseln diese Urlaubs-Atolls schicken wird.
Der Rhythmus ist sehr eigen und erfrischend angelegt, weil ihr ihn zum Teil selbst bestimmt. Es ist ein Shenmue in Badelatschen und Hawaiihemd, bei dem ihr jedes neue der kleinen Eilande als frischen Raum voller optionaler und verpflichtender Möglichkeiten erkundet. Niemand wird es euch verdenken, wenn ihr in der Arcade auf Leysure Island nicht in allen dreien der netten 16-Bit-Games einen Highscore aufstellt oder mit der ferngesteuerten Drohne nicht die bisherigen Bestzeiten einreißt. Ihr bleibt trotzdem jedes Mal für zwei, drei Versuche hängen und bekommt hier und da ein paar Taler oder - seltener - einen neuen Gegenstand zur Belohnung, etwa ein Paddel, mit dem ihr herumstehende Kanus benutzen könnt.
Es geht im Grunde immer so weiter. Ihr knippst für den Souvenirladen Postkartenmotive von den Ruinen der Inseln, macht Klimmzüge, nehmt an einem Surfwettbewerb teil - solche Dinge eben. Man stolpert auf dem Weg zum nächsten Ruinen-Rätsel immer wieder in unterhaltsame, wenngleich nicht eben tiefschürfende Urlaubsbeschäftigungen und probiert allein aus Prinzip alles mindestens einmal aus. Selbst wenn es nur Geld gibt - denn auch das öffnet euch neue Zeitvertreibe oder die Gelegenheit, ein neues Reiseziel freizuschalten. Oft genug geht es auch darum, herauszufinden, was überhaupt die Voraussetzungen sind, um an einer Disziplin teilnehmen zu dürfen. Surfen geht zum Beispiel nur mit Badehose, ist ja klar. Die muss man erst kaufen und dann einen Platz zum Umziehen suchen.
Auf jeder der drastisch unterschiedlichen und angenehm übersichtlichen Inseln verbringt man gerne ein wenig Zeit, schaut, was man alles machen kann, redet mit jedem, um über eventuelle Bedürfnisse der Bewohner informiert zu sein und notiert sich im Geiste den Ort der nächsten Ruine, in deren Bauch ... nun, sagen wir, es gibt hier eine Menge Puzzles und Plattform-Rätsel zu lösen, die zwar nicht schwierig, aber zumindest deutlich fordernder sind, als das, was man unter freiem Himmel zum Zeitvertreib macht. Hier nimmt dieses wunderbare Spielchen beinahe eine Fez-artige Andersweltlichkeit an, ohne aber natürlich auch nur ansatzweise so schwierig zu werden. Niemand hier ist daran interessiert, dass euer Fortschritt ins Stocken kommt.
The Touryst fühlt sich tatsächlich schwer nach Urlaub an, schießt ein Bündel Sonnenstrahlen durch das nasskalte Wetter der letzten Herbsttage und hebt damit zumindest in meinem Fall aktuell ordentlich die Stimmung. Ganz perfekt ist es allerdings nicht. Die Steuerung bei einigen Plattformrätseln ist etwas zu knifflig und nicht selten muss man auch bereits gelöste Rätsel nochmal absolvieren, wenn man auf dem Weg zum freigelegten Zielobjekt doch noch in den Tod stürzt. Und - und die Frage muss erlaubt sein - ich glaube nicht, dass irgendjemand bei Shin'en schon mal wirklich Kanu gefahren ist, denn deren Steuerung funktioniert in der Realität genau umgekehrt.
Es stimmt also, dass nicht wenige von The Tourysts vielen, vielen lustig aufgemachten und attraktiven Nebenbeschäftigungen mehr Spaß entfalten könnten, wären sie durchdachter und ihre Handhabung eine Idee griffiger. Auch fordert das eine oder andere Minispiel lange gar nicht, nur um dann auf der Zielgeraden bei seiner schwierigsten Stelle ein Game Over zu provozieren, weshalb man regelmäßig ausgedehnte Passagen wiederholt, die man schon wie im Schlaf spielt. Aber dieses Spiel lebt am Ende von der Masse und dem schieren Überraschungspotenzial, woran dieser kubistische Urlauber sich wohl an der nächsten Ecke der Strandpromenade versuchen darf. Das Wenigste hiervon ist dazu gedacht, es öfter als drei Mal zu probieren und das ist in diesem Fall vollkommen in Ordnung.
The Touryst muss man einfach mögen. Technisch steht es Nintendos Eigenproduktionen in nichts nach, die Gestaltung ist ein Hingucker und in Sachen Spielablauf ist es ein dringend benötigter Sommervorschuss der genau um die richtige Balance zwischen Die-Beine-baumeln-lassen und zwingenderem Abenteuerdrang zu balancieren weiß. Ich habe meine Zeit hiermit sehr genossen und würde mich nicht wundern, wenn wir in Zukunft mehr von diesem Tourysten sähen - aber das heißt nicht, dass Shin'en nicht trotzdem gerne das nächste F-Zero machen darf!
Entwickler/Publisher: Shin'en - Erscheint für: Switch - Preis: ca. 20 Euro - Erscheint am: erhältlich - Sprache: Deutsch - Mikrotransaktionen: nein