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The Vanishing of Ethan Carter - Doppel-Test

Man kann das ja alles so und so sehen...

Die kurze Geschichte eines Doppeltests, der unterschiedlicher kaum hätte ausfallen können. Es begann damit, dass ich Matthias Grimm, Ex-Chefred von Gamona, gleichgesinnter Dark-Souls-Fanatiker und publizierter Autor, einen Code für Ethan Carter zuschob. "Du stehst doch auf solchen Kram, würdest mir echt 'nen Gefallen mit tun, Zeit ist gerade das wertvollste Gut." Dieser Text kam zurück. Ich war gelinde gesagt etwas überrascht, schließlich hatte ich bisher nur Gutes über Ethan Carter gehört. Das kann ich nicht einfach so raushauen, die anscheinend niedrigste Wertung auf der Welt, und das sogar mit sicherem Abstand. Das muss ich bestätigen können. Nun... kann ich nicht. Aber irgendwie doch. Wir haben wohl beide recht. Ich natürlich mehr, weil ich ich bin, und das ist mein Absatz. Aber Matthias auch. Und deshalb erst einmal eine (seine) Blickweise auf dieses recht eigene Spiel.


Ethan Carter (Test - Matthias Grimm)

Manch eine Geschichte stellt an ihren Anfang den Hinweis, man befinde sich von nun an in einer Galaxis weit, weit entfernt. The Vanishing of Ethan Carter weist hingegen auf etwas anderes hin: „Dieses Spiel ist eine narrative Erfahrung, die dich nicht an der Hand nimmt", steht dort geschrieben, beinahe schon als Warnung, das Spiel bitte nicht falsch zu verstehen. Damit ist das Trapez von „Ethan Carter" bereits vollständig gespannt: Erfahrung. Erzählung. Nicht-an-die-Hand-Nehmen. Sehen wir uns seine Ecken nacheinander an.

Die ersten Momente in der Welt von Ethan Carter sind Momente der offenen Münder. Des unbändigen Staunens. Diese Grafik! Diese Details! Diese Bäume, Steine, Bäche, die so wirken, als existierten sie nicht bloß in einem Computerspiel, sondern wirklich irgendwo auf diesem Planeten. The Vanishing of Ethan Carter funktioniert wie das interaktive Pendant zu einem Gemälde der Romantik. Es feiert die Natur, indem es ihr einen Zauber einschreibt und sie im Geiste begehbar macht.

„Ethan Carter" reiht sich ein in die Liste von Spielen wie Dear Esther, deren Sinn sich im Erkunden und Erfreuen einer virtuellen Welt erschöpft. In der man allenthalben stehen bleiben und den Fotoapparat zücken möchte, um ihre Schönheit festzuhalten. Der weite Blick vom Gebirgshang ins Stauseetal, das majestätische Anwesen auf der Klippe, die geheimnisvoll rauschenden Bäume - der Spaziergang durch die einsame Welt von „Ethan Carter" fühlt sich an wie eine Wanderung im Schwarzwald.

Wunderschön: eine Spielwelt wie aus einem Gemälde von Caspar David Friedrich.

Auch, weil Entwickler The Astronauts auf realistische Details achtet, die manch anderer unterschlägt. Hier werden nicht einfach nur graue und grüne Flächen aneinander geklatscht und behauptet, es handele sich um Felsen und Wiesen, während geklonte Bäume aus dem Speed-Tree-Algorithmus darüber wachsen. Nein, hier meint man jedem verwelkten Blatt des Herbstwaldes beim Verrotten zuschauen zu können, hier wachsen kleine verirrte Wurzeln aus dem Erdreich eines abgerutschten Hangs, und jeder Trampelpfad scheint von zahllosen Füßen über die Jahre hinweg ausgetreten worden zu sein. Mehr Natur gibt es wahrlich nur im Real-Life. The Vanishing of Ethan Carter hätte ebenso gut auf Geschichte und Rätsel verzichten können - und tut dies über weite Strecken auch, was mich zum nächsten Punkt führt...

Wie der Warnung eingangs zu entnehmen war, nimmt „Ethan Carter" den Spieler auf seiner Reise nicht an die Hand. Eine momentane Mode - ähnlich der Unplugged-Bewegung zu einer Zeit, als die Musik begann, elektronisch zu werden -, die wahrscheinlich als Gegenbewegung zum derzeitigen Mainstream zu deuten ist, in dem der Spieler nicht nur an die Hand genommen, sondern den ganzen Weg entlanggezerrt wird.

„Ethan Carter" erzählt seine Geschichte nicht in aufdringlichen Lettern, sondern lediglich durch Andeutungen: eine bestialisch zugerichtete Leiche auf den Bahngleisen, in Rätseln sprechende Notizzettel, und dann immer wieder die Kurzgeschichten des verschwundenen Jungen Ethan Carter, der die traumatisierenden Ereignisse in gleichnishaften Märchen kleidet, sie so reflektiert und verschachtelte Hinweise gibt, was wirklich passiert sein könnte.

In den Momenten, in denen „Ethan Carter" am ehesten so etwas wie ein traditionelles Spiel ist, rekonstruieren wir die Geschehnisse an einem Tatort: untersuchen Spuren wie einen Abdruck im Schlamm, legen Gegenstände wie eine Schere an ihren ursprünglichen Ort und bringen Bruchstücke der mutmaßlichen Ereignisse in ihre chronologische Reihenfolge.

Schwierig oder gar aufregend ist das allerdings nie. Die einzige wirklich Schwierigkeit an den „Rätseln", wenn man sie denn so nennen mag, ist es, sie überhaupt als solche zu erkennen und nicht achtlos an ihnen vorüber zu laufen, wie es mir mehrfach passierte. „Ethan Carter" ist kein Rätselspiel oder gar Adventure, vielmehr ist es eine Landschaft, in die eine Geschichte gewoben wurde, die zu enthüllen es gilt. Tatsächlich ist „Ethan Carter" immer dann am schwächsten, wenn es gefährlich nahe in den Verdacht eines „richtigen" Spiels kommt. Besonders gegen Ende, als es für einen kurz aufflackernden Moment einen Schritt Richtung Amnesia tut und dabei beinahe tatsächlich mal schwierig und aufregend wird, sieht man das Konzept von „Ethan Carter" buchstäblich vor seinen Augen bröckeln.

Immer noch schön, aber so allmählich könnte ruhig mal was Aufregendes passieren.

Denn meistens ist The Vanishing of Ethan Carter vor allem eines: ein Spiel für Spaziergänger, eine Tech-Demo für ein Spiel, das erst noch jemand erfinden muss. Ich habe gerade das miese Gefühl, jemandem furchtbar Unrecht zu tun, denn die Liebe der Entwickler zu ihrem Spiel ist ihm in jedem feinst modellierten Grashalm anzusehen, aber ich muss es einfach so knallhart sagen: Ich habe mich selten in meinem Leben so gelangweilt wie in diesen knapp fünf Stunden in der Welt von „Ethan Carter".

Dabei ist es nicht so, dass ich mit dieser Art von Spielen grundsätzlich nichts anfangen könnte, dass ich nicht versucht hätte, es zu mögen und mich darauf einzulassen. Es wollte mir einfach nicht gelingen. Und ich saß nach dem Abspann noch lange davor und dachte nach, warum das so war.

Nach reiflicher Überlegung komme ich zu dem Schluss, dass es an allen drei Stützpfeilern von „Ethan Carter" liegen muss: Erfahrung, Geschichte, Rätsel. Haken wir sie nacheinander ab: Die Rätsel sind wie gesagt kaum der Rede wert. Wenn sie auftreten, stören sie meist nur, nerven gar teilweise. Die Geschichte schaffte es nie so richtig, mich an den Haken zu kriegen, sie ist mehr wirr als geheimnisvoll erzählt und erst am Ende allmählich spannend und so was wie clever, aber dann ist es bereits zu spät.

Bleibt also noch die interaktive Erfahrung, also das Aushängeschild von „Ethan Carter". Hätte mir das Spiel besser gefallen, wenn es Rätsel und Story weggelassen hätte und sich allein auf die Schönheit seiner Grafik, das Bestaunen der Natur und die Lust am Erkunden konzentriert hätte? Ich glaube nicht, und nach einigen Stunden Nachdenkens glaube ich auch zu wissen, warum. Während interaktive Kunstwerke wie Journey oder auch The Unfinished Swan mit ihrer Welt verblüffen, sich an ihrer Ästhetik erfreuen, ist die Schönheit der Welt von „Ethan Carter" lediglich technische Prahlerei, ein reiner Grafikporno.

Auf dem Friedhof kommen wir einem Verbrechen auf die Spur. Die Rätsel sind eher störend als unterhaltsam.

Sobald die „Ah!"s und „Oh!"s der ersten Minuten verflogen sind, ist nicht mehr viel übrig, das an ihre Stelle treten könnte. Eben auch, weil die Grafik so realistisch ist, weil das Erleben keine ästhetische oder emotionale Erfahrung ist, sondern jederzeit einem realen Spaziergang Platz machen könnte. Weil das Bestreben, diese Welt zur Bühne für eine in Andeutungen erzählte Geschichte zu machen, weitestgehend verpufft. Die Welt von „Ethan Carter" ist einfach nur da, um bestaunt und durchquert zu werden. Sie ist Träger einer Geschichte, die sie aber nicht halten kann, sondern die ihr durch krude Spielmechanismen wie Sand durch die Finger rieselt.

„Ethan Carter" ist eines dieser Spiele, die schreien „Kunst!" und das vor allem als Totschlagargument verstanden wissen wollen. Daher vermutlich auch der eingangs erwähnte Warnhinweis zu Beginn des Spiels: um jene von vornherein als Banausen zu brandmarken, die ihre Vision nicht teilen. Nun ist „Ethan Carter" in der Tat eine zeitweise wunderschöne Erfahrung. Aber es wird Zeit, dass Indie-Entwickler wieder begreifen, dass sie ihre Spielwelten nicht nur dafür bauen, um wie in einem Museum begafft zu werden, sondern ihnen einen Sinn verleihen. Denn sonst sind sie einfach nur kunstvoll abgesonderte Selbstgefälligkeit.


Ethan Carter (Test - Martin Woger)

Stellt euch eine Geschichte vor. Ihr geht durch diese Geschichte. Vom Anfang bis zum Ende. Dann steht ihr wieder am Anfang und ihr könnt ihr erneut folgen. Nur seht ihr sie nicht. Ihr wisst nicht einmal, dass sie überhaupt existiert. Ihr seid ein Tourist in einer hübschen Landschaft. Ihr seht alte Gemäuer, majestätische Wälder, Täler, durch die sich malerische Flüsse ziehen. Es ist schön. Es ist friedlich. Es ist nicht im Entferntesten das, wonach es aussieht. Aber das würdet ihr nie erfahren. Wenn ihr nicht wüsstet, dass das ein Spiel ist und irgendwo eben doch eine Geschichte wartet.

Wenn „The Vanishing of Ethan Carter" - Das Verschwinden des Ethan Carter - euch als allererstes in einem leicht arrogant anmutenden Satz verkündet, dass dies eine narrative Erfahrung sei, die euch nicht an die Hand nimmt, hätte ich nicht erwartet, dass es so wortwörtlich gemeint war. Ihr könnt durch fast das ganze Spiel laufen, kommt von dort zurück zum Anfang und seht nichts außer der visuellen Schönheit, die das Team The Astronauts mit erstaunlicher Kompetenz im Umgang mit der Unreal Engine auf die Beine stellte. Über ein paar Hinweise stolpert ihr. Es sind Fragmente von insgesamt knapp zehn größeren Rätseln, aber wer nicht genau sucht, den wird das Spiel nicht davon abhalten weiterzuziehen. Das ist ein spannender Ansatz, aber es kann auch ein sehr frustrierender sein. Gut also, dass die Rätsel nicht so schwer sind, dass sie die Atmosphäre der sich so langsam aufbauenden Handlung auszubremsen versuchten.

Ein kleines, in sich geschlossenes Universum. Seid ihr Tourist, Zuhörer oder doch Erzähler?

Und hier steht und fällt das Spiel, es kommt zu 100 Prozent darauf an, ob nicht nur ihr euch auf die Stimmung überhaupt einlassen möchtet, sondern auch, ob ihr den richtigen Moment erwischt, indem ihr für diese recht subtile Art des Horrors empfänglich seid. Das Spiel bemüht den zuletzt wieder recht häufig genutzten Begriff des lovecraftianischen Horrors, also den zumeist eher tückischen Stil H.P. Lovecrafts, der zwar auch seinen Anteil an Gewalt bereithält, viel mehr aber die Frage stellt, was real ist, was nicht, was der Geist in extremen Situationen produziert und ob in der Tiefe in der Stadt R'lyeh wirklich uralte Tentakelmonster lauern. Der Trick ist, dass man diese nie zu Gesicht bekommt und dass sie nie wirklich eingreifen, sondern durch unterschiedlichste Anbeter ihre Wünsche ausführen. Ein ganzes Rollenspieluniversum hat um genau diesen Kniff ein eigenes Regelsystem aufgebaut. Je weniger man sieht und weiß, desto besser geht es einem. Genau so funktioniert die Geschichte, die sich hier langsam in Ethan Carter vor euch entfaltet.

Ihr startet ahnungslos. Dann ein paar seltsame Fallen entlang des Weges. Eine alte Familienfehde. Ein Toter entlang der Bahnschienen. Erste Hinweise auf einen mystischen Schläfer. Ein paar Begegnungen der wirklich surrealsten Art später, die ihren Sinn mit genau der erwähnten Art des Grauens verknüpfen - und das besser, als es je zuvor einem Spiel gelang -, purzelt ihr durch das dunkle Kaninchenloch einer Tragödie, nur um am Ende dazustehen und... tja. Es war ein interessantes Ende. Mir hat es gefallen. Mir hat der Horror gefallen. Ich mag diese Art des Horrors. Und vor allem war ich in der richtigen Stimmung.

So ist es nur ein altes Haus. Je mehr ihr aber wisst, desto mehr beginnen die Objekte eigene Geschichten zu erzählen.

Ich möchte noch anmerken, dass die Stimmung, die hier durch das oben beschriebene nicht an die Hand nehmen entsteht, so vielleicht in keinem anderen Medium funktionieren würde. Ein Buch geht durch von der ersten bis zur letzten Seite. Ein Film von der ersten bis zur letzten Minute. Beide könnten anfänglich auch dieses Gefühl des Touristen vermitteln, der in einer schönen Umgebung nur ein paar vereinzelte unangenehme oder seltsame Dinge, aber nicht die Geschichte um sie herum sieht. Sie müssten dann in ihrem eigenen Tempo auf den Punkt kommen und die Geschichte erzählen. Hier bestimmt ihr zu einem guten Teil das Tempo und auch in einem gewissen Rahmen, was ihr von der Geschichte zu Gesicht bekommt. In keinem anderen Medium wäre dies so möglich.

Eigentlich könnte ich jetzt aufhören. Es stimmt, dass die Rätsel kaum als solche zu bezeichnen sind. Lauft ein wenig herum, sammelt die ein, zwei Gegenstände ein, die es gibt, es ist eh fest markiert, wo sie hingehören. Wenn ihr erst mal den Modus Operandi verstanden habt, sind 80 Prozent der Arbeit getan, das Spiel wiederholt sich im Ablauf an ein paar Stellen ganz gern. Immerhin ist es sich dessen bewusst und setzt es zum Ende hin sogar ein wenig dramaturgisch wertvoller ein. An einer Stelle habe ich ganz gut geknabbert, an einer anderen habe ich einfach einen Gegenstand nicht gleich gefunden und musste eine halbe Stunde herumlaufen, was die Stimmung drückte. Aber sonst gehen hier die Intention des Spiels und seine spielerische Umsetzung Hand in Hand.

Damit ihr nicht so lange festhängt wie ich: Die Krähe liegt bei zwei Bäumen an einem Grab zwei Schritt hinter Jesus von der Kirche aus.

Das bedeutet in erster Linie, dass The Vanishing of Ethan Carter kein sonderlich gutes Spiel im Sinne fordernder interaktiver Unterhaltung ist. Wenn ihr etwas sucht, mit dem ihr viele Stunden euer Gehirn anstrengt oder das eure Geschicklichkeit fordern soll, dann ist das hier wahrscheinlich das letzte Spiel, das ich vorschlagen würde. Es ist die visuell wie akustisch brillant gelungene Umsetzung einer klassischen Kurzgeschichte im lovecraftianischen Stil, die ihr eben nicht lest, sondern durch die ihr hindurch wandert. Ich tue mich nicht nur schwer, es einem Genre zuzuweisen, ich bin mir nicht mal sicher, ob ich es in das Medium des Videospiels, wie ich es sonst definiere, packen würde. Es ist mir aber auch ehrlich gesagt vollkommen egal, denn die Geschichte um Ethan Carter hätte ich auf 50 Seiten Papier verschlungen, so habe ich sie eben an zwei Abenden dreidimensional durchwandert. Ich wurde sehr gut und auf ungewöhnliche Weise unterhalten. Warum also sollte ich mich beschweren?

(Die Wertung ist nicht willkürlich, aber sie passt aus genannten Gründen auch nicht ganz in unser übliches Schema. Nehmt es als meine Einschätzung, wie gut dieses Mix-Medium, das Ethan Carter sich da gebastelt hat, für mich als Unterhaltung funktionierte.)

So. Und jetzt macht daraus, was ihr wollt.

4 / 10

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