The Walking Dead: Episode 1 - Test
Manchmal braucht es halt erst einen Weltuntergang: wie Telltale von einem Comic das Patentrezept für episodisches Spielen ableitet.
Zynische Gemüter würden Lee Everett Glück im Unglück attestieren. Er - soeben zu einer ... nun ... längeren Haftstrafe verurteilt und gerade auf den Weg in den Knast - würde das vermutlich anders sehen. Doch hier ist er nun und erlebt live von der Rückbank des Polizeiwagens aus mit, wie das Schicksal sich eine andere Art von Buße für ihn ausdenkt. Die Hölle läuft ein für alle Mal über, die wandelnden Toten kehren auf die Erde zurück, um sich an den Lebenden zu laben.
Was Sherriff Rick Grimes sowohl in der gleichnamigen Graphic Novel als auch in der neben Game of Thrones aktuell wohl erfolgreichsten Fernsehserie verpennt, erlebt ihr durch Lees Augen mit: das Ende der Zivilisation, vielleicht gar das Ende der Menschheit an sich. In jedem Fall aber das Ende der Menschlichkeit. In einem überaus dialoggetriebenen Spiel inszeniert Telltale diesen Teil der Zombie-Apokalypse verdammt nah am Original, auch wenn die Figuren und Hintergründe im Vergleich zur Comic-Vorlage stilistisch ein wenig netter, geradezu disneyfiziert wirken.
Nichtsdestotrotz ist das hier spürbar ein interaktiver Ableger des Buches und er tappt dabei nicht einmal in dieselbe Falle, wie viele Cross-Media-/Cross-Plattform-Ableger anderer populärer Stoffe. Wo andere Begleit- oder Prequel-Spiele ihre Vorlage unbeirrbar auf einer Parallelfahrbahn flankieren oder ihr dort thematisch hinterher- oder vorausfahren und dabei fast immer ein wenig die Glaubwürdigkeit strapazieren, könnte Lee Everetts Geschichte auch vollkommen für sich alleine stehen. Losgelöst von der berühmten Marke.
Die Überschneidungen mit der Handlung des Originals sind stets plausibel, scheinen niemals gezwungen und es wird immer nur so viel Licht auf die Geschehnisse vor oder nach Ankunft der Überlebenden aus dem Buch geworfen, wie absolut notwendig. Was ihr hier durchmacht, fühlt sich nicht wie eine unbedeutende und arg konstruierte Nebengeschichte an - siehe das andere "Gefährten"-Rudel im letzten Herr-der-Ringe-Spiel - sondern macht sein eigenes Ding. Das Spiel profitiert natürlich von der Nähe zu dem populären Ausgangsmaterial, man hat aber immer das Gefühl, dass sein Augenmerk unbeirrbar auf seiner eigenen Geschichte liegt.
Die dreht sich im Folgenden um ein ungleiches Duo, denn nach seiner erzwungenen Flucht aus dem Gewahrsam stolpert Lee über die achtjährige Clementine. Was mit ihren Eltern geschah, kann man sich nur aus den verzweifelten Nachrichten zusammenpuzzeln, die blechern und verheult aus dem Anrufbeantworter hallen. Auch hier wagt Telltale-Autor Sean Vanaman einen Blick zurück zum Anfang der Katastrophe und vervollständigt damit das Bild von diesem Weltuntergang ein wenig mehr, ohne ihm seinen Grauen zu nehmen. Was noch aus den Aufzeichnungen hervorgeht: Der ehemalige Universitätsprofessor hat es offensichtlich binnen nur weniger Stunden vom Knastbruder zum Erziehungsberechtigten gebracht.
Diese ungleiche Paarung ist auch gleich der größte Trumpf des Spiels. Die aufgeweckte Clementine weckt Beschützerinstinkte, ohne dem Spieler zur Last zu fallen. In den Gesprächen zwischen Lee und ihr kommt es immer wieder zu aufrichtig emotionalen Momenten, die mal herzerwärmend, mal bedrückend sind. Schnell stellt man Lees eigenes Wohl und das aller anderen Überlebenden, die man trifft, hinten an, denn dieses Kind ist eins der wenigen Dinge, die an dieser Welt noch gut und richtig sind. Umso bitterer, dass Leser der Bücher - anders als der zusammengewürfelte Verbund Flüchtiger, der immer noch denkt, dass "unsere Jungs das innerhalb der nächsten Tage schon richten" - schon lange wissen: es wird nicht mehr besser. Niemals. Nur noch viel, viel schlimmer.
"Auf eurem Weg raus aus dem Gröbsten in Richtung der Stadt, in der Lees Familie lebt, stellt man erfreut fest, dass Telltale nach dem doch sehr filmigen Jurassic Park wieder traditionellere Adventure-Mechaniken auffährt."
Auf eurem Weg raus aus dem Gröbsten in Richtung der Stadt, in der Lees Familie lebt, stellt man erfreut fest, dass Telltale nach dem doch sehr filmigen Jurassic Park wieder traditionellere Adventure-Mechaniken auffährt. In den meisten Szenarien könnt ihr Lee frei durch die Umgebung bewegen und mit dem rechten Stick benutzbare Elemente und Gegenstände markieren. Da euer Inventar nie mehr als drei Gegenstände beinhaltet, liegt jede mögliche Interaktion auf einer der vier vorderen Tasten (Anschauen / Ansprechen ist die Vierte). Das bedeutet natürlich auch, dass von euch keine komplizierten Kombinationsrätsel verlangt werden. Alle Items sind bislang recht unkomplizierte Glieder in einer Kette von Handlungen, die euch aus der jeweiligen Problemsituation herausbringen. Die Schwierigkeit liegt eher darin, herauszufinden, wo bei dieser Kette vorne und hinten ist.
Es bleibt trotzdem immer recht schnörkellos und wirklich rätseln muss man eigentlich nie, was Adventure-Die-Hards unter Umständen ein bisschen zu wenig sein könnte. Ihr findet ein Foto, um eine bestimmte Person auch im zombifizierten Zustand noch zu identifizieren, nutzt einen Stein auf bestimmte Weise zur Ablenkung, und wenn das Anwendungsgebiet eines Gegenstandes mal nicht so offensichtlich ist, gibt euch ein anderer Charakter einen Tipp. Versteht man das Spiel aber als interaktive Geschichte, profitiert es hiervon unermesslich. Als hätte man den neuesten Band der Graphic Novel vor sich, will man schließlich einfach nur wissen, wie es weitergeht. Und da wären allzu harte Rätselstolpersteine - die in klassischen Adventures bekanntlich auch mal ein wenig abstrus sein können - nur ein Hindernis.
Das bedeutet nicht, dass sich das Spiel von selbst lösen würde. Denn ihr kämpft vor allem auch gegen euren inneren Schweinehund. Anders als in vielen anderen Spielen dieser Gattung, die immer erst "weitergehen", sobald ihr einen bestimmten Punkt überschreitet oder eine gewisse Aktion anordnet, reagieren die Zombies "analog" auf euch. Blickt zu lange über die Mauer und der Gammler, der gerade in der Mitte des Parkplatzes mit seinem Dessert beschäftigt ist, bekommt Wind von euch. Daraus entstehen Situationen, in denen man ewig abwägt, beobachtet und sich kaum traut, aus seinem Versteck herauszutreten, um das zu tun, was nötig ist. Oder von dem man glaubt, dass es nötig ist. Hier entsteht teilweise eine Spannung, die der Vorlage in nichts nachsteht. Selten war man so verkrampft am Controller. Und wenn Telltale mittendrin in einer solchen Szene, die jede Farbe aus euren Fingerknöcheln weichen lässt, dann auch noch ein tragisches Wiedersehen mit einem bestimmten Charakter auf euch einwirken lässt, fühlt man sich gefühlstechnisch aus allen Rohren mit Sperrfeuer belegt.
"Anstatt in Gesprächen in Ruhe die "optimale" Antwort zu finden, platzt einem regelmäßig die ehrlichste heraus."
Die Spannung liegt nicht zuletzt auch darin begründet, dass ihr - ähnlich wie in Heavy Rain, dem The Walking Dead abzüglich der QTEs recht nahe kommt - die Handlung durch eure Taten beeinflusst. Allzu weit streckt sich der eigentliche Ausgang der meisten Situationen zwar bisher nicht, aber vor allem in den Gesprächen verschiebt man schon jetzt mit seinem Verhalten die Loyalitäten in der Gruppe ganz ordentlich. Ein schrumpfender Zeitbalken unter den eingeblendeten Antwortmöglichkeiten sorgt hierbei für einen Zug, der zwar nicht ganz große Hektik aufkommen lässt, jedoch dafür sorgt, dass ihr in Konversationen oft intuitiv agieren müsst. Anstatt hier die "optimale" Antwort zu finden, platzt einem dabei regelmäßig die ehrlichste heraus. Interessanterweise ist sogar Schweigen immer eine valide Reaktion.
Und dann gibt es noch panikartige Situationen, in denen Lees Eingreifen über Leben und Tod richtet. Eine davon beschrieb ich ja bereits in der Vorschau vor Kurzem und im Grunde sähe ich es lieber, ihr würdet diese wieder vergessen und nähmet mich beim Wort, wenn ich euch sage, dass diese Szenen ihre Wirkung nicht verfehlen. Mehr mag ich dazu nicht verraten, denn bei den nur knapp zwei Stunden Spieldauer für diese erste Episode solltet ihr eine der großen Entscheidungen lieber selbst erleben. Man hat durchaus das Gefühl, hier seine eigene Geschichte zu erleben, auch wenn der Ausgang der Episode sich natürlich einem übergeordneten Handlungsbogen unterordnet. Überhaupt geht es hier wohl tatsächlich eher darum, den Spieler Einfluss auf die Beziehungen der Figuren untereinander üben zu lassen und darauf, wie sich die Gruppe zusammensetzt, was ja auch dem Geist der Vorlage mehr als nur entspricht. Auch wenn mir das bislang reicht, hoffe ich jedoch, dass meine Entscheidungen sich im späteren Verlauf noch in etwas bedeutenderem Umfang auswirken.
Was Telltale bisher bietet, gefällt jedenfalls außerordentlich gut und scheint auch den kreativen Kopf hinter der Reihe, Robert Kirkman, überzeugt zu haben. Das Tempo und die Stimmung variieren häufig und die Figuren sind glaubwürdig gezeichnet und im Englischen sehr gut vertont. Manchmal kommen Dialoge und Geschichte leider nicht so glatt zusammen, wie das wohl geplant war. Hier hat sich Telltale wohl nicht ganz 100-prozentig auf diverse Wahlmöglichkeiten des Spielers einstellen können. Gelegentlich verrät Lee anderen Figuren etwa vielsagend Dinge, die er sie in anderem Kontext bereits hat wissen lassen. Andernorts wird er mehrfach als der "Dad der Kleinen" angesprochen, obwohl er die Verhältnisse eigentlich schon klargestellt hatte. Und eine bestimmte Unterhaltung mit einem Charakter aus dem Buch führte ich nach bestem Wissen und Gewissen, nur um später trotzdem der Unehrlichkeit bezichtigt zu werden. Möglich, dass euch das - je nach eurem Verhalten nicht auffällt, ein bisschen ungelenk wirkt es ab und an aber doch.
Optisch und klanglich ist das Spiel unterdessen besser als alle bisherigen Veröffentlichungen Telltales. Die Musik unterstreicht gerade ruhige Momente sehr stimmungsvoll, während die Comic-Optik für sehr ausdrucksstarke Figuren ohne Uncanny Valley sorgt. Wer sich für nur knapp 20 Euro die komplette, fünfteilige Staffel sichert, bekommt hier einen hochwertig produzierten Titel, der mir ehrlich gesagt sogar noch mehr Wert wäre. Wer reinschnuppern will, erhält die erste Episode für 400 MS-Punkte, beziehungsweise 5 Euro, verliert dann aber den Rabatt gegenüber dem Gesamtpaket.
Ein abschließendes Urteil erlaube ich mir erst, wenn diese erste Staffel dann in fünf Monaten abgelaufen ist. Als Abonnent hat mich Telltale mit seinem eigenen Blick in dieses trostlose Universum aber schon jetzt gewonnen. Die Vorlagentreue ist so hoch wie der befürchtete Gimmick-Charakter dieses Spin-Offs niedrig. Die exzellent geschriebenen Dialoge und die ungemein große Liebe zum Detail sind Dinge, die alles andere als selbstverständlich sind.
Mit der monatlichen Erscheinungsweise verbindet The Walking Dead die Regeln des Comic-Business auf faszinierende Weise mit den Mitteln eines Videospiels. Hier wird man dem Buch, mit seinem tollen Gefühl für Spannungsbögen, mehr als nur gerecht. Das Ende lässt mich noch jetzt erschaudern und macht mit der gekonnt geschnittenen Vorschau auf die nächste Episode so viel Lust auf mehr, wie ich sie lange nicht erlebt habe. Gelingt es Telltale, die Geschichte dermaßen frisch und spannend weiterzuführen und vielleicht noch die kleinen, aber ärgerlichen Anschlussfehler zu beseitigen, wird The Walking Dead mit jeder Episode ein größerer Erfolg. Ich habe ein gutes Gefühl, dass wir uns im August über dieses Spiel als den wohl einnehmendsten und erfolgreichsten Entwurf zum Thema episodischen Spielens überhaupt unterhalten werden.