The Walking Dead – Episode 3: Long Road Ahead - Test
… wenn man sich denn traut, sie weiterzugehen.
Stellte die letzte Folge von Telltales Comicbuch-Umsetzung noch die Frage, ob man Fremden in der Prime-Time der Apokalypse noch trauen darf, wirft Long Road Ahead nun einen genaueren Blick auf die Gruppendynamik innerhalb des Rudels Überlebender um Lee und Clementine. Einige Fronten verhärten sich, vor allem als Konsequenz einiger Dinge, die im letzten Teil passiert sind, andere Beziehungen werden in einigen schönen Momenten gestärkt. Freilich nur, damit einem Telltale etwa in der Mitte mit einem satten Ruck und perfektem Timing den Teppich unter dem Hintern wegzieht.
The Walking Dead - Episode 3 ist das bisher bitterste Kapitel und zeigt endgültig, dass die Kalifornier mutig genug sind, auch in die unangenehmsten Bereiche des schlimm-deprimierenden Ausgangsmaterials vorzustoßen. Jetzt ist definitiv niemand mehr sicher - und zwar in einer Art und Weise, die im Grunde noch geschickter ist, als die "Rette ich X oder Y?"-Entscheidungen, die man bisher traf. Emotional steht man an einigen Stellen von Long Road Ahead vor einem veritablen Scherbenhaufen und das Schauspiel der comichaft gekonnt stilisierten Figuren trägt das Gewicht der Misere auch problemlos. Nicht nur geht es an die Nieren, hier Zeuge von Schmerz und Verlust zu werden, man spürt sie auch selbst. Eine Leistung, die man Telltale nicht hoch genug anrechnen kann.
Einen in sich geschlossenen und von bildgewaltigen Set-Pieces durchzogenen Handlungsbogen, wie in der vom klassischen Redneck-Horror inspirierten zweiten Folge, Starved for Help, gibt es dieses Mal nicht, wodurch Telltale das Tempo einmal mehr schön variiert, seinen Figuren Raum zum Atmen - oder besser "Ersticken" - gibt und die Spieler darüber im Dunkeln lässt, was wohl als Nächstes passiert. Auch sie, und damit Lee, sind in gewisser Weise Opfer der Umstände, und können zwar versuchen, die Geschicke der Gruppe zu beeinflussen. Letzten Endes stellen sie aber nur das Zünglein an der Waage dar. Manchmal hilft es, es kommt in Episode 3 jedoch auch zu einigen wichtigen Szenen, in denen man sich zwar einmischt, deren Ausgang man aber nicht wirklich steuern kann.
Das wird zweifellos einige Spieler dazu veranlassen sich über "nur vermeintliche Entscheidungsmöglichkeiten" und vielleicht sogar "Augenwischerei" zu beschweren. Doch in diesen Situationen sollte man sich zum einen bewusst werden, dass auch Telltale hier einen bestimmten Effekt erzielen will, was ihnen auch wahnsinnig gut gelingt. Zum anderen hat man auch im richtigen Leben selten alle Fäden in der Hand, die volle Kontrolle über die Lage, geschweige denn den Ausgang einer wie auch immer gearteten Konfrontation. Wenn zwei Starrköpfe aufeinanderprallen, heißt das noch lange nicht, dass einer der beiden nachgibt, egal, was der andere sagt. Wenn man sich dazu noch vor Augen hält, dass in diesem Spiel gerade die Welt untergegangen ist, sollte man sich nicht wundern, wie sehr man in Wirklichkeit doch nur Spielball seiner Umwelt ist. Wichtig ist, dass man jederzeit steuern darf, welche Art von Mensch Lee nun sein soll. Das ist euer zentraler Gestaltungsspielraum.
Trotzdem muss man in einigen Situationen natürlich immer noch unbequeme Ansagen machen, bei denen man sich teilweise wirklich zusammenreißen muss, Lee nicht auf die böse Seite kippen zu lassen. Durch diese Art der Spielbeeinflussung empfindet man den verurteilten Sträfling jederzeit als seine eigene Figur, weil man steuert, was er denkt, wie er Dinge anpackt, und baut in letzter Konsequenz eine tiefere Bindung zu ihm und seinen Wegbegleitern auf, als das in den meisten anderen Spielen der letzten Jahre der Fall war. Und wenn diese ihn dann verlassen, trifft einen das umso härter. So funktionieren nun mal Charakterdramen, ob in Spielen oder anderswo.
Die Halbzeit hätten wir damit hinter uns, was mir genügt, um ein vorläufiges Fazit zu ziehen: Diese erste Staffel hat schon jetzt einen festen Platz in meinen Top Ten des Jahres gebucht. Ob sie im vorderen oder im hinteren Teil landet, entscheiden die letzten beiden Episoden. Schon jetzt steht aber fest, dass ich mich auf ewig an Lee und Clementine als das rührendste und menschlichste Duo der Spielegeschichte erinnern werde. Telltale zeichnet sich mit dieser Reihe als ein Studio aus, das genau weiß, wie man glaubwürdige, erwachsene Charaktere schreibt und erweist den Spielen und Spielern damit einen der wichtigsten Dienste dieser Generation. The Walking Dead stößt dem Medium die Tür auf und lässt auch andere Genres denkbar werden: Krimis! Dramen! Love-Stories? In diesem Format und mit diesen Autoren dahinter scheint fast alles möglich.