The Witcher 3: Wild Hunt - Test
Schnürt die Ranzen!
Damit das gleich als Erstes weg ist: Die offene Welt von The Witcher 3 ist ebenso eindrucksvoll wie geordnet. Sie befolgt viele geläufige Open-World-Regeln, ohne sich der Verdummung an den Hals zu werfen, lässt euch auf dem Weg durch nebeligen Morast anhand von optionalen Quest-Markern und gestrichelten Linien das Ziel fokussieren. Interessante Orte versieht sie auf Wunsch mit Fragezeichen, die zu lüften mir nach unzähligen Stunden noch eine Freude ist, und wer auf eine Minimap besteht, kann gelben Ausrufezeichen folgen. Sie ist ebenso geheimnisumwittert wie komfortabel zu bereisen, was sie zu einem der besten Beiträge zum Thema "Open-World" macht, der Entwickler CD Projekt hier aus dem Stegreif gelingt.
Ihre Dichte bezieht sie trotz aller (abschaltbaren) Komfortfunktionen durch ein Gefühl für Orte, Leute und ihre Geschichten, deutlich mehr als andere offene Spiele. Jedes niedergebrannte Dorf im vom Krieg geschwärzten Temerien fühlt sich "richtig" an, und aus gutem Grund platziert zwischen dem Zentrallager der nilfgaardischen Besatzer im Südosten und der freien nordwestlichen Stadt Novigrad, einer aus großer Perspektive wimmelnden Miniaturwelt innerhalb der hohen Mauern, voller Arbeiter, Säufer, Musikanten, Schläger und Händler.
Was sich dazwischen erstreckt, gleicht nur oberflächlich und auf den ersten Blick dem Pauschalurlaub mit All-inclusive-Berieselung, den andere Spiele vollmundig ausloben. Zumal es zwischen all den Leichen am Flussbett ganz schön stinkt und die Trinkwasserversorgung mancherorts zusammenbricht. Von Urlaub oder Erholung kann im Angesicht des politisch eingefärbten Mittelaltermiefs keine Rede sein, und dennoch wüsste ich selbst nach zwei Wochen keinen Ort, an dem ich jetzt lieber wäre. Geralt von Riva, Hauptcharakter und professioneller Monstertöter, er vielleicht schon, aber so ist das eben, wenn die ihm von den Machern seines dritten Spiels mitgegebene Motivation lange Zeit schwer nach McGuffin riecht.
The Witcher 3 zeigt eine Entwicklung innerhalb seiner Welt, wo andere in Wachs gefangen scheinen, natürlich immer im Rahmen dessen, was Videospiele mit Hunderten oder gar Tausenden NPCs leisten können. In den besten Momenten entsteht ein wunderbarer Einklang zwischen den Landschaften der Künstler und den Geschichten der Autoren dahinter. Die Burg des Blutigen Barons ist ein Zeuge entgleisten Miteinanders, die Reuseninsel ein verfluchter Ort tragisch verstorbener Liebe.
Unter der wohligen Sonne Velens liegen nicht nur satt-gelbe Kornfelder, verschlafene Fischerdörfer und Bauernhöfe, sondern auch so manch teuflischer Schlund, den man beim beiläufigen Durchreiten nicht wahrnimmt. Als Hexer ist man mal hier und mal dort, überall und nirgendwo. Am besten ist es, man vergisst die aufgesetzte Dringlichkeit der Haupthandlung (weil ein Videospiel in den Dimensionen das ohnehin kaum einhalten kann) und verirrt sich dorthin, wo Bevölkerung und eine Anschlagtafel etwas zu tun versprechen.
Nachts in eine Taverne zu platzen, ist eine Wonne. Die Harten boxen um ein paar Münzen, die Gemütlichen erzählen pfeifeschmauchend Geschichten aus der Region, in den Ecken rumort es - für den Moment, diesen einen, in dem man da steht, ist das Spiel noch mehr Gewinner als ohnehin schon. In diesem Moment erkundet man Orte, keine Markierungen, hört Menschen zu, keinen Quest-Gebern. Ich konnte Mütter dabei beobachten, wie sie ihre Kinder ins Haus pfiffen, als ein aufziehender Sturm den Himmel verdunkelte und Bäume durchschüttelte. Dank voranschreitender Technik für Open-World-Spiele seit der letzten Generation ist es auf diesem Acker so unheimlich schwer geworden, Eindrücke zu hinterlassen. The Witcher 3 schafft es, landschaftlich besonders, mit bewegter Vegetation, einem Gefühl für Wind, aufgewirbeltem Staub und fantastischer Lichtstimmung. Hier einen Ort zu erreichen ist eine echte Ankunft, so kitschig es klingt.
Es ergibt Sinn, dass sich Nachrichten am Anschlagbrett allmählich von Dorf zu Dorf verbreiten, wenn im beschaulichen Schwarzzweig niemand anbeißt, sprich: ein weißhaariger Hexer gerade woanders unterwegs war und den Werwolf-Plot verpasste. Aus spielgestaltender Sicht eine nette Möglichkeit, den Spieler unter Einhalt innerer Logiken sanft in die gewünschte Richtung zu drücken. All diese Geschichten sind da, die kleinen linearen und die nach mehreren Schlenkern zu multiplen Enden führenden. Es wäre bedauernswert, sie zu verpassen.
Entsprechend begreift sich die Welt auch weniger als Stellplatz für spielerisch belanglose Attraktionen, sondern für ihre fantastische Lore. Obwohl sie systematisch leicht unterteil- und durchschaubar ist, indem sie etwa mit Bomben zu sprengende Monsternester entlang von Banditenlagern oder Schatzkisten platziert - also Dinge, die sich immer wiederholen -, habe ich selten besser erzählte Geschichten in einem modernen großen Rollenspiel erlebt, Fallout: New Vegas ausgenommen.
Allein die Monsterjagden lenken den Blick tiefer ins umkämpfte Temerien mit seinen Nekrophagen, Greifen und Ghulen, als es mindere Rollenspiele in ihren erzählenden Aufgaben zustande bringen. Sie sind im Grunde nur optionale Stärkeprüfungen, die Geralt von Riva in seiner ureigenen Profession als Ungeheuertöter darstellen, ohne den Bezug zur Welt schleifen zu lassen.
Das Glossar und darin enthaltene Bestiarium sind ein umfangreiches Verzeichnis über Land, Leute und die Monster, die dazwischen lauern. Vor der Jagd kann sich Geralt über deren Stärken und Anfälligkeiten informieren, hilfreiche Hexertränke, die Klinge stärkende Öle oder Bomben herstellen. Auch wenn das im Grunde immer gleich abläuft und CD Projekts Äquivalent zu "Klopp mal eben da hinten alle Viecher weg" ist, fühlt sich nichts davon wie allzu manieriertes Füllmaterial an oder so, als hätte jemand nach sieben von zehn implementierten Aufgaben keine Lust mehr gehabt.
Was hier passiert, kann durchaus regional relevant sein, etwa weil Nekker den Wiederaufbau eines Feldes stören. Auch so manche Neben-Quest endet in einem handfesten Monstergekloppe, dann aber, nachdem sie ausreichend erklärte, wieso es eben nicht anders ging, oder weil ihr es so entschieden habt.
Und das ist nur, was Geralt tut, wenn ihm zwischen Mordermittlungen, Essenseinladungen und gierig die Bewohner abzockenden Allgöttern die Finger jucken. Dem Rhythmus zuliebe verzichtet CD Projekt nicht komplett aufs Kleinklein überschaubarer Handlungsabfolgen, weil es so was eben auch geben muss. Ich hoffte sogar auf einige Wolfsfellmissionen, weil das Spiel die Angewohnheit pflegt, vielen seiner Quests zumindest einen kleinen Drall zu verleihen. Wölfe zu kloppen und ihre Felle zu holen, das wäre eine nette Entspannung gewesen, doch ganz so plump war es nicht.
Auch wenn nicht immer überall Folgen zu erkennen sind, fühlt man sich dank der Autoren hin und wieder, als hätte man jemanden im Stich gelassen. Oder ihn in etwas hineingezogen, wofür man sich am Ende vollherzig entschuldigen würde, läge derjenige nicht bereits in einer Pfütze seines eigenen Blutes. So wie den bis über beide Ohren verschuldeten Halbling, dem ich einen Sieg beim großen Pferderennen versprach, dann aber verlor. Die Schulden kann er aus seiner Tasche nicht bezahlen, zurück in sein Zuhause erst recht nicht angesichts der Schlange stehenden Schläger, also bleibt ihm nur, allem mit Sack und Pack den Rücken zu kehren.
Geralts drittes Spiel dreht sich mehr noch als die ersten beiden um die privaten, ruhigen Töne abseits der großen, weltlichen Dinge. Neben wilder Jagd und Krieg bleibt immer Platz fürs Banale und Alltägliche, eine angeschickert ins Heckenlabyrinth rennende Triss Merigold, was nicht so albern ist, wie es vielleicht klingt. Für Geralt, der mit Rittersporn einen köstlich-albernen Fake-Überfall auf die Beine stellt oder auf der Bühne ahnungslos durch ein Theaterstück rumpelt.
Gerade für ihn als Charakter, der sich ein letztes Augenzwinkern innerhalb des Hexerdaseins bewahrt, als jemand, der trotzdem unbeirrt seiner Agenda folgt, ist es ein unheimlich wichtiges Abenteuer. Eine der Literatur entstammende Figur hat hier, in ihrem voraussichtlich letzten Spiel, endlich ihr digitales Zuhause gefunden.
Was die Haupthandlung angeht: Sie ist mehr eine (sehr gute!) Rechtfertigung, die komplett Spielwelt abzuklopfen, ihre aufregendsten Ecken zumindest, ein Ziellauf, der mit seinen Meilensteinen entlang der Strecke wahnsinnig interessant wird. Ob nach Flieder und Stachelbeeren duftende Love-Interest oder Geralts Mündel - ich weiß nicht mal, ob von den beiden abseits der Romane großartig die Rede war. Wichtig sind die Stationen, an denen der Hexer auf der Suche nach ihnen notgedrungen haltmacht. Dort entspinnen sich Familientragödien oder Machtkämpfe in der Novigrader Unterwelt.
The Witcher 3 ist auch etwas für Leute vor dem Spiegel, die ihre neuen Stiefel oder Rüstungen von allen Seiten bewundern und sich selbst dazu anfeuern möchten, immer Besseres zu finden. Ab dem zweiten der vier Schwierigkeitsgrade lebt das Spiel am Rand sehr gut von diesen Mechanismen, ohne einer Überstrapazierung zu erliegen. Weder ist Geralt jemand, der seinen zur Leiche erkühlten Gegnern die Hosen abknöpft, noch sprudelt das Loot aus Monstern wie aus einem Springbrunnen.
Alle paar Stufen ein robusteres Gambeson oder eine Klinge der Klassifizierung "Magisch" oder "Relikt" zu finden - langsam, aber stetig - ist viel belohnender, als nach jedem geköpften Wegelagerer das Gepäck ausmisten zu müssen. Schon früh erhält man Schemas für hochwertige Ausrüstung: ein Schwert mit 400 Schadenspunkten? Meins hat gerade mal 150. Neben dem entsprechenden Charakterlevel braucht man dafür auch seltene Materialien und mitunter einen Schmiedemeister. Das Stieren nach Höherem motiviert. Es geht immer weiter.
Und wird nicht zum Placebo, denn eine auf freiem Feld landende Level-20-Gorgo bleibt eine auf freiem Feld landende Level-20-Gorgo. Mit besserer Rüstung hält man vielleicht zweien ihrer Treffer stand statt nur einem und fühlt sich umgehend stärker, besser, mächtiger. Auch wenn CD Projekt lange keine Souls-Klasse erreicht, was Kleidungs- und Waffenvielfalt angeht, hänge ich nach all den Stunden immer noch am Haken und finde regelmäßig meinen Meister. Den, der mir die ab Level 18 benutzbaren Handschuhe fertigt, und einen anderen, der sie mir hohnlachend von den Fingern prügelt. Weil entweder er zu stark war oder ich zum falschen Zeitpunkt bei ihm.
The Witcher 3 lässt niemanden aufsteigen, außer Geralt. Die Gegner in seiner Umwelt verharren auf dem ihnen gegebenen Niveau, ob man sich nun nach acht oder achtzehn Stunden über den Weg läuft. Ihr Fortschritt geht in Maßen vonstatten: Es gibt, wie vermutet, keine Level-30-Wölfe, nur weil sich die Regionen mit fortschreitender Handlung ändern. Die Spannweite zwischen der Stufe desselben Gegnertyps bleibt nachvollziehbar. Ein Rudel Wölfe wird ein bisschen zäher, aber wenn jemand vorbeikommt, der Endriagen in den Boden donnert, kann auch dieses Rudel nichts mehr ausrichten.
Von daher Haken hinter ein weitestgehend sinnvolles System, das nicht nur Monster mit anderem Anstrich woanders als große Nummer verkauft, von dem ich mir manchmal aber mehr dicke Kerle entlang des Weges gewünscht hätte. Der Gothic-Vergleich, den ich im Startgebiet noch irgendwo aus entlegenen Hirnwinkeln kratzte, bleibt stecken, doch das war damals alles viel kleiner und besser kontrollierbar. Heute haben wir eine Welt, in der man sich aus allen Himmelsrichtungen annähern kann, von welchem Punkt auch immer.
Dazu ein Kampfsystem, das sich genau wie in den Vorgängern auf eine bekömmliche Kombination aus Klingen und Hexerzeichen stützt. Letztere sind das, was einem Hang zur Magie am nächsten kommt, wenn Geralt Flammen aus den Fingern schnippt, eine Druckwelle erzeugt (super zum Einreißen von Türen) oder Gegner kurzzeitig betäubt. Die Schwerter tun, wonach sie klingen, eines für Monster, das andere für Menschen.
Trotz aller Sympathie für das System sprechen wir hier nicht von Souls, da Ausdauer keine und Abstand zum Gegner eine nur untergeordnete Rolle spielt. Alles ist zugänglicher und vergebender. Angreifen, ausweichen, Trank reinpfeifen, wieder ran und ausweichen, Zeichen dazwischen, Bombe, Konter, Angriff - so sieht ein normaler Kampf aus. Dass Geralt locker zwei Meter bei anvisiertem Gegner überwindet, ist sicher seinem athletischen Kampfstil und dem Verzicht auf schwere Rüstungen geschuldet. Das System verhält sich trotzdem sensibel genug, um euch die Strafe spüren zu lassen, nachdem ein Golem mal wieder schneller war. Es ist nicht so, dass man schwören würde, an jedem einzelnen Tod selbst schuld gewesen zu sein. Dafür kommen in Innenräumen immer wieder Objekte oder die Kamera in die Quere. Aber es ist ein geschätztes und ab dem zweiten der vier Schwierigkeitsgrade auch durchaus forderndes System und eines der besseren, wenn man in Richtung Skyrim oder Risen schielt.
The Witcher 3 also, in erster Linie kein geistloses Monsterschaulaufen oder bloßes Eilen zu Markern hin, sondern eine über alle Maßen engagierte und gelungene Auseinandersetzung mit dem Thema "Open-World", die CD Projekt hier anstößt. Ein Abend mit Geralt ist gleichzeitig einer in Oxenfurt, Novigrad und Skellige, das Tagebuch gefüllt mit der Gewissheit, dass einen hier niemand verarschen und lahme Monsterkloppe als große Nummer verkaufen will. Nach 50 Stunden ist längst nicht Schluss. Es geht immer tiefer hinein in eine riesige Welt, die gern Platz für Alltägliches lässt, für Annäherungen und Blödeleien inmitten des Krieges.
Trotz Zugehörigkeit zu einer Generation, in der nichts mehr ohne Minimap und Quest-Pfeil geht, wahrt sich Geralt seine Klasse und trifft in langen Nächten immer den richtigen Nerv. Was soll ich noch sagen, außer dass ich jede der unzähligen Minuten genossen habe?