Thief - Test
Vom Dieb im Formtief, der sich zu sehr in seinem Plot verstrickte und darüber die Freiheit vergaß.
Garrett trägt neuerdings eine Korsage aus Leder. Danke, liebe Art-Designer bei Eidos Montreal! Ein besseres Sinnbild wäre mir nicht eingefallen, um die Probleme des neuesten Sprosses der Thief-Reihe auf den Punkt zu bringen. Auch ich fühle mich, als hätte man mich beim Spielen in ein Korsett gezwängt.
Ich schleiche auf Pfaden, die von den Entwicklern nach allen Regeln der Kunst in Form gezurrt wurden. Sie schnüren dem Meisterdieb die Luft zum Atmen ab, damit er ein bisschen hübscher ausschaut. Statt der völligen Freiheit, die ich von einem Thief des Jahres 2014 erwartet hätte, bekomme ich ein gezähmtes Labyrinth vorgesetzt. Dieses ist zwar trotzdem noch komplex und bietet reichlich Gelegenheit zur Schatzsuche, bei genauer Betrachtung erkenne ich aber den Strauß bunter Tunnel, aus denen ich wählen darf. Das Schleichvergnügen hat außerdem ein kurzes Haltbarkeitsdatum. Zehn bis 15 Stunden sind es maximal, um die Hauptquest auf normalem Schwierigkeitsgrad zu beenden, fünf bis acht Stunden rechne drauf, wer alle Sammlerstücke und Geheimnisse finden will.
Schon die Steuerung ist ein Hinweis auf das drohende Ungemach. Vergesst den ganzen Story-Zinnober um "Schwermut", "Götzen" oder "Urkraft" - die wahre Seuche der Stadt hört auf den Namen "Kontextbutton". Auf diesen vereinen sich Klettern, Springen, Laufen oder am PC die Sprint-Rolle. Unser Meisterdieb kraxelt allerdings nur an Hindernissen und Absätzen hoch, die von den Programmierern zuvor abgesegnet und markiert wurden. Ansonsten bleibt er hilflos davor stehen, obwohl er anderswo weitaus höhere Hindernisse spielend erklommen hat. Fassadenklettern? Darf Garrett nur in den Story-Kapiteln und auch nur an fest definierten Passagen, für die ihr in die Schulterperspektive wechselt. Springen kann der Meisterdieb ausschließlich an Abgründen und nach vorn. Alternativ vollführt er eine Ninjarolle. Seilpfeile halten nur an speziellen Ankerbalken. Wer diese Fixpunkte in der Spielwelt besser erkennen will, aktiviert die "Fokussicht" des Meisterdiebs.
Sorry, aber an dieser Art Gameplay hab ich mich bei Batman und seiner Arkham-Trilogie sattgesehen. Dass Garrett jetzt auf ähnlichen Schienen schleicht, nehme ich den Machern übel. Vor allem, wenn man im Kontrast zu den Story-Kapiteln die Stadt durchstreift. Hier deutet sich ein Potenzial an, das viel zu wenig ausgeschöpft wurde.
Won't you take me to Sandboxtown?
Wenn ihr nicht gerade dem Plot um größenwahnsinnige Adlige, religiöse Fanatiker, der mysteriösen "Schwermut-Seuche" oder eurer verschwundenen Freundin Erin folgt, geht ihr in der Stadt (Bezirk Stonemarket) auf Diebestour. Es gibt hier zahlreiche Dächer, Holzbrücken, dunkle Ecken, Kanäle und Geheimverstecke, die ihr ausforschen könnt. Euer Hehler Basso oder die wunderlichen Zeitgenossen Vittori und Ector haben zusätzliche Aufträge für euch parat, durch die ihr euren Kontostand aufbessert. Darüber hinaus dürft ihr diverse Fenster aufstemmen und die kleinen Wohnungen dahinter plündern. 82 Sammlerstücke warten darauf, gefunden und in Garretts Glockenturmversteck ausgestellt zu werden.
Es ist erstaunlich, wo ihr überall Beute findet. Arm kann die Bevölkerung jedenfalls nicht sein. Oder misstrauisch. Nicht nur in Schubladen, Schränken oder mit Fallen gespickten Wandtresoren bunkern sie ihre goldenen und silbernen Kerzenleuchter, Ringe, Becher, Füllfederhalter, Flachmänner, Uhren oder Scheren. Viel häufiger liegen diese Schätze unbeachtet auf der Straße herum oder zieren Kisten auf verlassenen Hinterhöfen. Das stelle man sich einmal in einer echten Stadt vor! Und was für kräftige afrikanische (oder europäische) Schwalben Stonemarket bevölkern müssen! In wirklich jedem Nest liegt ein Geldbeutel voller Goldmünzen! Nun ja, gut für euch, denn jeder Beutegegenstand wird von Garrett sofort durch Zauberhand in Bargeld umgewandelt. Das tauscht er dann beim Händler gegen bessere Ausrüstung oder investiert es bei der Königin der Diebe in "Fokuspunkte", um seine Fähigkeiten zu verbessern.
Trotzdem ist es dieser Stadt-Hub, der es mir angetan hat. Manche mögen die Schleichpassagen durch dieses Labyrinth in drei Dimensionen dröge finden, doch ich hätte mir ein vielfach so großes Gebiet gewünscht. Dazu weitläufige Wohnungen, deren Mieter zu Hause sind und mir den Beutezug erschweren. Wie großartig könnte es sein, einfach nur eine riesige, freie Stadt mit Sandbox-Elementen unsicher zu machen und gelegentlich ein paar Aufträge für meinen Hehler zu erledigen? Quasi GTA V zum Schleichen. Technisch wäre das heutzutage sicher möglich gewesen.
Manche mögen die Schleichpassagen durch die Stadt dröge finden, doch ich hätte mir ein vielfach so großes Gebiet gewünscht.
Natürlich bedeuten mehr interaktive Elemente, wie verschieb- und tragbare Kisten oder frei erklimmbare Wände, dass die Spieler ihren eigenen Weg gehen, dadurch etliche Passagen abkürzen und vielleicht die coolen und mit viel Herzblut geplanten Skriptmomente verpassen. Vom Mehraufwand in Sachen Level-Design und Gegner-KI ganz zu schweigen. Andererseits hätte ich mich dann wirklich wie ein Meisterdieb gefühlt, der mit Hirnschmalz und Witz seine Beutezüge bestreitet und völlige Freiheit genießt. Dafür würde ich sogar die Haupthandlung sausen lassen.
Gute Zeiten, schlechte Zeiten, geskriptete Zeiten
Die Kapitel der Handlung selbst sind nämlich, verglichen mit der Stadt, ernüchternd linear aufgebaut. Stets gibt es zwischen zwei und vier mögliche Routen zur Auswahl, je nachdem, ob ihr komplett schleichend (Phantom), gemischt (Opportunist) oder aggressiv vorgehen wollt (Jäger). Mit einigen Upgrades für Items und Fokussicht kann Garrett im Nah- und Fernkampf einiges austeilen, doch einer Übermacht an Feinden hat auch er wenig entgegenzusetzen. Sein Element ist das geduckte Schleichen von Schatten zu Schatten. Darum verwundern mich die optionalen Ziele während der Kapitel, die eine bestimmte Anzahl Kopftreffer oder KO-Schläge erfordern. Spiele ich hier Hitman oder Thief?
Dabei stecken einige tolle Ideen und erinnernswerte Momente in der Narrative. In einer alten Gießerei geht es zum Beispiel reichlich morbide zur Sache - hier werden Leichen verbrannt, und ihr müsst euch dazwischen verstecken. In der Heilanstalt von Moria spukt es gewaltig: Kaum dass ihr euch wegdreht, ändern die Geister die Umgebung oder jagen euch einen Schrecken ein. Hier zeigen sich die geskripteten Momente von ihrer Glanzseite. Dann gibt es noch eine Handvoll Actionsequenzen (Uncharted und Call of Duty lassen grüßen!), in denen der Meisterdieb auf den Spuren von Assassin's Creed über Dächer parcourt, um brenzligen Situationen zu entkommen.
Einige Tresore wurden mit Spezialschlössern gesichert, die den kreativen Puzzlefreund in euch ansprechen. In der Umgebung findet ihr Dokumente, die euch beim Ausknobeln von Zahlenschlössern helfen (Kopfrechnen inklusive). Besonders gelungen sind die storylastigen Nebenmissionen von Ector und Vittori, in denen ihr zum Beispiel unsichtbarer Schutzengel für einen blinden Säufer auf der Straße spielt, oder einen alten Sammler bestehlt, der seinen genervten Butler terrorisiert.
Es stecken einige tolle Ideen und erinnernswerte Momente in der Narrative.
Auch gibt es witzige Dialoge zu belauschen ("unterhalten sich die Wachen gerade über Penisringe?") oder kleine Anspielungen seitens der Synchronsprecher ("summt die Wache gerade die Melodie von 'Raumpatrouille Orion'?"). Die deutsche Version ist übrigens ordentlich vertont worden, wobei sich die Standardsprüche der NPCs für meinen Geschmack ein bisschen zu oft wiederholen und in der Review-Fassung einige Sounds zu leise oder zu laut abgemischt waren, sich doppelten oder übereinandergelegt abgespielt wurden. Nichts, was ein flinker Patch nicht richten würde.
Sehr interessant sind die Freaks in späteren Kapiteln: Mutierte Gesellen, die unter Licht verbrennen und über ein ausgezeichnetes Gehör verfügen. Hier kehrt sich mal eben das gewohnte Gameplay um: Bleibt im Licht und meidet die Schatten.
Die Gegner-KI hat starke und schwache Momente. Wachen reagieren auf Geräusche und erspähen euch im Schatten, wenn ihr zu schnell über Glas, Pfützen oder Papier bewegt. Lenkt ihr zwei Wachen durch Wurfgegenstände ab, teilen sie sich auf - was das Vorbeischleichen erschwert. Sie werden misstrauisch, wenn ihr Türen oder Schränke offen stehen lasst, schlagen Alarm bei bewusstlosen Kollegen oder wenn ihr zu offensichtlich durch einen Lichtkegel huscht. Haben sie euch gesehen, folgen sie euch relativ hartnäckig. Selbst wenn ihr im Schatten untergetaucht seid, dauert es lange, bis sie sich wieder beruhigen. Allerdings verlassen sie nie ihre festen Routen, wenn sie nicht gerade in Alarmbereitschaft versetzt wurden. Auch ihre Suchmuster sind alles andere als brillant. Die Typen drehen sich gerne in Richtung von Wänden oder Abgründen, von wo nun wirklich keine Gefahr droht. Unterstützt werden sie durch Vögel in Käfigen oder Wachhunde, die beim Passieren Laut geben.
Vorbildlich sind die Möglichkeiten, das Spiel auf eure Bedürfnisse anzupassen. Jedes Element des HUD kann auf Wunsch ausgeblendet werden - bis hin zum Funkeln der Beute oder andere Hervorhebungen und Hilfen. Drei Schwierigkeitsgrade beeinflussen die Aufmerksamkeit und Stärke der Gegner. Im Meister-Modus ist es zudem verboten, Zivilisten auszuknocken oder zu töten. Darüber hinaus könnt ihr für Bonuspunkte zusätzliche Einstellungen vornehmen und weitere Handicaps zuschalten. Zum Beispiel Speichern, eure Fokusfähigkeit, die Zielhilfe oder Heilobjekte deaktivieren, nur Spezialpfeile und unentdecktes Ausschalten zulassen oder eure Bewegungen verlangsamen. Richtig happig ist die Einstellung "Ultimativer Dieb": Beim Tod ist das Spiel vorbei (Ironman), Upgrades gibt es nicht, Töten und Knockouts sind verboten und die Wachen dürfen nicht Alarm schlagen. Wer das auf höchstem Schwierigkeitsgrad meistert, kann zu Recht damit angeben.
Bei aller Kritik gelingt es Thief durch schiere Masse, einige seiner Scharten auszuwetzen und eine unterhaltsame Darbietung abzuliefern. Wer nicht nur die Geschichte abfrühstückt, sondern alle Sammlerstücke und Dokumente im Spiel sucht und die Stadt bis zum letzten Winkel auf versteckte Schalter oder Mechanismen abklopft, kann damit einige Stunden seine Freude haben. Auch ist die Optionsvielfalt beachtlich, durch die Thief zu einem wahren Schwierigkeitsmonster mutiert (ich freu mich schon auf den ersten Speedrun mit Ironman-Einstellungen). Ein Sternchen ins Klassenbuch gibt es zudem für ein paar interessante Kniffe während des Storyparts und witzige Momente. Bemerkenswert ist, dass hier die Seitenmissionen von Ector und Vittori mehr Spaß machen als einige der Hauptkapitel, weil sie pfiffig geschrieben sind.
Dennoch denke ich mir immer, wie viel toller ein modernes Thief hätte werden können. Die Reihe gehört zum Wurzelwerk aller Schleichspiele. Garrett war der Archetyp der Schattenducker. Mittlerweile gibt es jedoch reichlich Konkurrenten, von denen sich die Entwickler leider etwas zu sehr haben inspirieren lassen. Ich hätte mir mehr Pioniergeist gewünscht und dass Eidos Montreal die Zügel auch mal loslässt. Garrett zwischen Kontext-Button-Wänden einzupferchen und von Skript zu Skript zu peitschen, ist eine Sünde. Thief wäre ein neuer Meilenstein geworden, wenn man die Storykapitel eingedampft und dafür die Stadt erheblich ausgebaut hätte. Dazu mehr Freiheiten in Sachen Steuerung und Vorgehensweise, Sandbox-Elemente und ein paar Dutzend gut geschriebener Aufträge oben drauf - fertig wäre das Meisterwerk. So ist Thief nur ein weiteres, wenn auch hochwertiges, Schleichspiel auf dem Markt, das während seiner Kampagne die Tugenden und Unarten der Konkurrenz nachäfft. Ein gut gemachtes Sammlerspiel für Komplettisten und willensstarke Zeitgenossen, die vor dem höchsten Schwierigkeitsgrad nicht zurückschrecken. Hoffentlich verzichtet Garrett beim nächsten Mal auf sein Korsett. Es würde dem Schleichgenre guttun.