Tokyo Jungle - Test
Zwei Ansichten zu einem Spiel, in dem Katzen und Pekinesen auf Großwildjagd gehen.
Soweit die sehr coole und ehrlich gesagt auch ziemlich unheimliche Prämisse. Einer leeren, aber sonst weitestgehend intakten Stadt haftet immer etwas Bedrückendes an, selbst wenn die Sonne scheint und das Leben pulsiert. Leider ist die Stadt in Tokyo Jungle bei weitem nicht alles, was sie sein könnte. Kein GTA-artiges Ungetüm lockt mit freier Erkundung, vielmehr erinnert der Aufbau an die 16-Bit-Tage, als Action-Adventures auch gerne mal Sidescroller waren, bei denen man an definierten Punkten eine Ebene vor oder zurück wechselte.
Das an sich wäre gar nicht mal so wild, aber nicht einmal die Kamera überhaupt auch nur einen Millimeter bewegen zu können, interferiert schnell und ganz schön mit dem eigentlichen Ziel des Spiels. Dieses definiert sich einfach: Ihr habt ein Tier - entweder Fleisch- oder Pflanzenfresser - und müsst am Leben bleiben, um euch fortzupflanzen und so mit weiteren Generationen das Gleiche zu tun. Bis ihr irgendwann dann doch das Zeitliche segnet. Wenn es ein Ende gibt, dann habe ich es noch nicht gesehen, aber nach 10 Generationen von Pekinesen, Kühen oder Pumas war es noch nicht so weit, dann um den Dreh herum wurde ich dann aber doch zu mutig, weil gelangweilt, sodass mich etwas dann doch erwischte. Und wenn es nur der Nahrungsmangel war.
Das Hauptproblem sind die viel zu simplen Mechaniken, die man nach einer Stunde praktisch komplett durchdrungen hat. Kleine Tiere angreifen, beziehungsweise Pflanzen fressen, vor großen Räubern flüchten, in jedem Stadtteil vier Punkte anpinkeln, um das Revier zu markieren und danach ein Weibchen in die Höhle locken. Nächste Generation und wieder von vorn. Was diesem natürlich definierten Rhythmus - mehr Ziele haben Tiere nun mal eher selten - die Würze geben müsste, wäre die Jagd und Flucht, aber hier versagt Tokyo Jungle. Es gibt Dutzende von Tieren, aber sie spielen sich alle gleich. Pflanzenfresser suchen sich verzehrbares Grün und verstecken sich im überall vorhandenen magischen Gras vor umherstreifenden Jägern. Magisch deshalb, weil die sonst so feinen Nasen von Hunden und Raubkatzen scheinbar das Dickicht nicht durchdringen können, sofern sie nicht gerade sahen, dass die potenzielle Beute sich dort versteckte. So funktioniert das meines Wissens nach nicht und das Spiel mit den andere Primärsinnen von Tieren wie besserem Geruchs- oder Gehörsinn wird so weit reduziert, dass es praktisch nicht vorhanden ist.
Auch unterscheiden sich Flucht- und Jagd-Tier viel zu wenig. Vor Großen verstecken, Kleine jagen oder ignorieren, es funktioniert so ähnlich, dass man wirklich immer die eigene Fantasie im Angesicht der surrealen Situation am Laufen halten muss, um nicht spätestens in der 4 oder 5. Generation der Langweile ewiger Wiederholung zu verfallen.
Die neuen "Missionen" und Ziele, die euch immer wieder gestellt werden und mit denen das Spiel zumindest versucht, eine Richtung zu bekommen, ergeben sich größtenteils ganz von allein. Geht in ein neues Revier, markiert es, rottet ein paar Konkurrenten aus. Ignorieren dürft ihr das nicht ganz, sofern ihr neue Tiere freischalten wollt - wer will schon ewig Pekinesen spielen -, aber unbedingt dem folgen müsst ihr nun auch nicht. Der Rogue-Charakter des Spiels kommt den freien Erkundungen leider häufig in die Quere, sobald ihr dort seid, wo ihr nicht sein solltet.
Dass man weitab in Richtung Zoo auf gefährlichste Feinde trifft ist ok, aber dass manche Bereiche teilweise einfach entvölkert sind und so das Durchqueren, geschweige denn "Erobern" praktisch unmöglich machen, nervt. Eine Generation von Katzen wollte ich in den Abwasserkanälen einquartieren, aber statt Ratten in Hülle und Fülle und vielleicht sogar Krokodilen fand ich ... diese Runde gar nichts. Nichts. Meine Katzen verhungerten, weil ich den Ausgang eines gefühlt endlosen und endlos langweiligen Areals nicht rechtzeitig fand.
Wäre das Gebiet toxisch gewesen, ok. Der Abgang der Menschen hatte wohl auch mit ein paar Umweltproblemen zu tun, denn immer wieder sind ganze Gebiete verseucht und lassen den Gift-Wert soweit ansteigen, dass euer Viech einfach umkippt. Das war in den Kanälen aber nicht der Fall, die Futter-Knappheit lag einfach an der zufälligen Verteilung von Tier, Pflanze und Gift. Dummerweise ist es so richtig zufällig und folgt nur selten einem System, das glaubwürdig vermittelt, über Jahre entstanden zu sein. Kommen Jäger und Gejagte zusammen, muss man nicht eingreifen, um Überlebenskämpfe bewundern zu können, aber sonst erfolgen die Wechsel und Wandel in Flora und Fauna willkürlich. Eine verpasste Chance, wenigstens auf diesem Weg irgendetwas spielerisch langfristig Interessantes in den Stadtdschungel zu bringen. Es besteht bei mutigen Erkundungstouren zu wenig Verlässlichkeit auf die Einhaltung Spiel-inhärenter Konzepte.
Mehr Struktur bietet da der etwas verzweifelt angetackerte Story-Modus, der euch mit bestimmten Tieren durch kleine Aufgaben schickt. Neue Kapitel werden im Survival-Modus freigeschaltet, was die ewige Wiederholungsanfälligkeit von Tokyo Jungle noch betont. Statt einfach nach eigenem Gusto durch die Story zu tigern, geht es immer wieder zurück auf die sowieso schon bekannten Straßen zu den immer gleichen Abläufen. Nicht, dass die Aufgaben und Möglichkeiten in der Story groß abweichen würden, aber das Spiel fühlt sich wenigstens für kurze Zeit etwas anders an. Ob das Freischalten neuer Kostüme für alle Tiere - oh ja, ihr könnt das Krokodil einkleiden ... - die ersehnte Abwechslung bedeutet, muss wohl jeder für sich entscheiden, meine Antwort wäre ein klares: "Nein. Leider nicht."
Tokyo Jungle ist eine gewaltige verpasste Chance. Die Grafik vorvorletzter Generation interessiert dabei nicht mal groß, es sind die banalen spielerischen Möglichkeiten in einer Prämisse, die grob geschätzt zu 7 Prozent des Maximalen ausgereizt wurde. Wo sind die Mutationen im Verlauf der Vererbung von Genmaterial? Wo sind die ganz Spezies-spezifischen Stärken wie Hundenasen und Katzen-Lautlosigkeit? Wo die Perspektive, die tierisches Stealth-Gameplay in dynamischen Umgebungen ermöglicht, in denen Windrichtungen beim Anschleichen eine Rolle spielen? Das wäre das absolute Minimum, Tokyo Jungle hat nichts davon. Stattdessen dürft ihr Pekinesen in Kostüme stecken und sie Kühe anfallen lassen.
Ich gebe zu, der Trash-Fan in mir erfreut sich daran für eine ganze Weile. Das sieht dermaßen krude und lustig aus, dass ich auch nach Stunden kaum glauben konnte, was ich da sah. Das ändert aber herzlich wenig daran, dass bereits nach zwei dieser Stunden auf spielerischer Seite die Luft raus war. Endlose Wiederholungen in einem sehr reduzierten Spielfeld lassen sich nicht durch Skurrilität allein wiedergutmachen. Etwas mehr muss sein, Tokyo Jungle bietet es nicht.
Es ist dabei wundervoll zu sehen, dass Japan immer noch für die gelegentliche Überraschung komplett aus dem Off zu haben ist und in diese Lücke gehört Tokyo Jungle. Es ist einfach traurig, dass es am Ende wohl "besser nicht ganz als gar nicht" heißen muss. Aber zu wissen, dass diese coole Idee nun weit unter Wert verbraten herumschwirrt, wurmt noch weit mehr, als hätte ich davon nie gehört. Ab jetzt werde ich mich fragen, wann endlich mal jemand ein richtiges Animal-Survival-Sim-Game herausbringt. Die Antwort dürfte "nie" lauten und deshalb, unter ganz massiven Vorbehalten und am Besten in Ignoranz meiner eigenen ehrlichen und meinem Gewissen abgerungenen Wertung, rate ich euch noch mal Björns Seite und Note zu lesen. Es sind einmalige 15 Euro, die ihr investiert. Aber das Geld muss schon ein wenig locker sitzen, denn ein gutes Spiel bekommt ihr nicht dafür. Nur ein ganz, ganz eigenes.