Tides of Numenera: Über Selbstzweifel, Triple-A-Torment und 500 Buchstaben statt Cutscenes
"Wir werden nicht imstande sein, die Nostalgie zu schlagen."
Beim Erscheinen von Torment: Tides of Numenera Ende Februar möchte ich nicht in dessen Haut stecken, selbst wenn es eine hätte und das anatomisch meinerseits nicht ein wenig ekelig aussähe.
Nach zwei Stunden Anspielen letzte Woche lässt sich festhalten: Es ist gut geworden, mindestens. Vielleicht sogar fantastisch, in jedem Fall aber entworfen mit großem Mitteilungsbedürfnis in den Texten, sorgfältigem Blick auf seine Figuren, ihren Lebensraum und einen unmöglich in zwei Stunden erfassbaren Hintergrund. Ein gut ausstaffiertes Rollenspiel, ohne Zweifel. Man spürt die ganze Zeit, dass "da noch viel mehr ist", wenn man durch seine Welt läuft und überall Möglichkeiten wittert, von Skill-Checks in den Dialogen bis zu den umfangreichen Beschreibungen für eine popelige kleine Waffe.
Tides of Numenera (bzw. dem vom Rollenspieldesigner Monte Cook entwickelten Universum) liegt eine Erde in Jahrmilliarden zugrunde. Die Menschen (und Nichtmenschen) leben im Glauben, dass vor ihnen acht große Zivilisationen kamen und untergingen, nicht alle menschlichen Ursprungs und mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Einige wandten sich der Raumfahrt zu, dem Reisen zwischen den Dimensionen, andere der Nanotechnologie. Hinterlassen haben sie jeweils reichlich. Was wir ab Ende Februar erleben, ist auch eine Art Spurenlesen in einer Welt der Wunder, in der alles möglich und vage erklärbar scheint. Ein erst mal sehr weit gefasster Ansatz.
Und dennoch. Dennoch ist da die Sache mit dem "geistigen Vorgänger" Planescape Torment, 1999 über Interplay erschienen. Für manche das beste Computer-Rollenspiel aller Zeiten, und wenn nicht das, dann oft wenigstens die besterzählte Geschichte in einem solchen. Es ist dieser Punkt der fast kultischen Verehrung, an dem das 2013 mit einer freudigen Kickstarter-Kampagne angetretene Erbe auf einmal zur zentnerschweren Last werden kann. Colin McComb hat an beiden Spielen mitgearbeitet. Am Original als Designer an der Seite von Chris Avellone, bei Tides of Numenera als Projektleiter.
Hat er Angst, Planescape Torment könne ihm auf ewig Karrierehöhepunkt bleiben, ohne dass etwas danach bloß in die Nähe kommt? "Oh mein Gott, ja", seufzt er. "Als mich Brian Fargo fragte, ob ich bei einem neuen Torment-Spiel behilflich sein möchte, war ich sehr verhalten und antwortete ihm wörtlich: 'Ich werde auf dich zurückkommen'. Wie soll man ein Spiel wie Planescape Torment auch toppen?"
"Kurz darauf erzählte ich meinem Schwager von den Ängsten und er sagte: 'Was verdammt bist du, ein Idiot? Natürlich solltest du das machen'. Da wurde mir wieder klar: Man muss sich selbst herausfordern. Wenn das heißt, etwas anzugehen, von dem man denkt, dass man es besser kann, sollte man es um Himmels Willen versuchen."
"Na ja, so ganz stimmt das nicht. Ich habe nie Herz-OPs ausprobiert", lacht er. "Aber wenn man sich als Künstler nicht verändert und wächst, dann stirbt man im Wesentlichen."
Wachsen ist ein schönes Stichwort für den Abschnitt namens The Bloom, nach etwa zwei Dritteln im Spielverlauf erreichbar und im Deutschen übersetzt mit Die Flor. Als Verbund aus gewebeartigen Fäden und Räumen, die aussehen wie aus Metall und Innereien zusammengesetzt, liegt es... wo ein Reisepunkt zwischen den Dimensionen eben liegt.
Die Idee dahinter ist, den Ort als lebendiges Wesen darzustellen, als schlingenden Moloch, dem zu entkommen seiner scheinbaren Willkür unterliegt. Sein Inneres ist mit Fleisch ausgekleidet und versetzt mit Reihen massiver Zähne, sogenannten Schlünden. Lose angelehnt an die Stadt Sigil, die Stadt der Tore im Original, kann man in einem Schlund verschwinden und... wo auch immer auftauchen. Fragt die Seeleute hier unten, denen ich leider nicht über den Weg lief, aber man kann sie treffen. Einige Leute reden auf jeden Fall von ihnen.
Andere wollen sich regelrecht verschlingen lassen, um die Schrecken des Krieges - welcher genau und warum, fragt mich nicht - vergessen zu können. Aber die Schlünde sind ebenso wie ihre Mutterumgebung wählerisch. Die Flor wächst und wächst, und damit die Anzahl der Bewohner. Von ihnen erfährt man beispielsweise, dass einige Individuen in der Hoffnung auf Erlösung statt Hinrichtung und Verlies hierher kamen.
Man trifft auf krude Händler mit einem Angebot an "Florfleisch" und Sklaven, kann sich Abhandlungen über arme Teufel anhören, denen vom Schlund "nur" der halbe Magen weggefuttert wurde. Danke auch.
Über vier Jahre befand sich diese Ausgeburt wild um sich feuernder Einflüsse in der Entwicklung. "Eines der unvorhergesehenen Probleme war Wasteland 2, dessen Produktion einfach zu lange dauerte. Wir verbrachten mit Torment also länger in der Vorproduktion, was uns wiederum mehr Zeit für eine ziemlich großartige Design-Dokumentierung gab", erinnert sich Colin.
"Legendäre Dokumentierung", springt Lead-Writer Gavin Jurgens-Fyhrie ein. "Im Grunde ist es tolles Material für einen Bilderband. Es wird wohl nie passieren, aber es wäre cool, könnten die Leute sehen, was unsere Künstler hier erschaffen haben." Für die Designer war es laut Colin ein Vorgang wie: "Hey, wenn ihr eine Stadt für das Spiel gestalten wollt - bitte schön!"
Einer dieser Designer ist George Ziets, kein Unbekannter, interessiert man sich ein wenig für die Menschen hinter der Videospielentwicklung. Ziets hat die fantastische Mask-of-the-Betrayer-Erweiterung für Neverwinter Nights 2 auf dem Kerbholz, darüber hinaus Design- und Schreibarbeit in Fallout: New Vegas (unter anderem diverse Charaktere in Camp McCarran und Forlorn Hope), und selbst mit den strikten Vorgaben für Dungeon Siege 3 machte er, was er konnte. "Trotzdem würde er Dungeon Siege niemals seinen größten Moment nennen", lacht Colin.
In Tides of Numenera spürt man seine Handschrift neben The Bloom auch in Saugus Cliffs. Einer Stadt, die ich vor einem Jahr schon in der Beta durchstreifte auf der Suche nach einem Becken voller verlorener Sprachen oder von ihren Eingeweiden strangulierten Straftätern. "Dürfte ich dir seine [Georges] Dokumentation dafür zeigen, sie würde dich überwältigen", schwärmt Gavin. "Wir sprechen hier von mehr als 200 Seiten an verzahnten Quests und Reaktivität. Dinge, die auseinanderfallen, und Dinge, die wieder zusammenlaufen. Personen, die schon früh sterben und andere Sachen beeinflussen. Es ist wirklich erstaunlich."
Colin weiter: "Die Liste der Sound-Effekte, die Liste der Charaktere, die Beschreibungen, das 'Plotting' jeder einzelnen Location innerhalb des Spiels... Nur eines dieser Areale zu designen, wäre eine Herausforderung für die meisten Leute. Ich bete regelrecht, dass er mit uns auch bei Wasteland 3 zusammenarbeitet".
Nun sind seit Planescape Torment 18 Jahre vergangen. Genug Bauzeit für haushohe Erwartungen gegenüber einem Spiel, das sich als Nachfolger im Geiste positioniert sehen möchte. Ich frage Colin, ob er Angst hat, diese Haltung nicht erfüllen zu können.
"Auf jeden Fall", platzt es aus ihm heraus. "Darüber haben wir umfassend geredet und ganz ehrlich, nein, wir werden nicht imstande sein, diese Nostalgie zu schlagen."
"Aber wir versuchen es auch gar nicht", ergänzt Gavin.
Für sie ist Tides of Numenera eher ein "würdiger Begleiter" in friedlicher Koexistenz, etwas, das den Torment-Namen weiterträgt und seine Relevanz aufrechterhält. "Die Spiele ergänzen sich gegenseitig. Sie sprechen Themen an, die dabei helfen, uns und unsere Denkbilder dahingehend zu hinterfragen, was es bedeutet, heutzutage am Leben und menschlich zu sein."
Und beide Spiele fühlen sich wohl dabei, die Geschehnisse in ihrer Welt über Entscheidungen im kleinen oder großen Rahmen zu steuern. Torment hat zum Beispiel ein fantastisches System, bei dem man nach Kampfbeginn mitunter noch kurzzeitig auf den anderen einreden und ihn vielleicht von einem gütlichen Ausgang überzeugen kann, selbst wenn alle drumherum mit gezogenen Waffen stehen.
"C&C" also, Entscheidungen und Konsequenzen. Heutzutage schöne und oft überbetonte Buzzwords, um ein Rollenspiel zu vermarkten. Früher gab es so etwas weniger oder gar nicht. "Ich würde sagen, in den frühen 2000ern bewegten sich Spiele davon weg. Alpha Protocol war hier aber zum Beispiel großartig. Obsidian ist darin sowieso gut", sagt Colin. "Doch je größer das Budget wird, je mehr Sprachausgabe hinzukommt und dich praktisch zwingt, cineastische Szenen zu erstellen... das braucht eben Zeit."
"Man muss das Spieldesign frühzeitig abriegeln, was wiederum weniger Zeit bedeutet, um zurückzugehen, auszufeilen und zu sagen: 'Mal gucken, was passiert, wenn wir dieses und jenes so oder so probieren'. Sobald man diese Freiheit wegnimmt, haftet man daran, eine Triple-A-Erfahrung zu kreieren, statt eines intimen, handgebauten Stücks."
"Ich könnte viele Dinge aufzählen, die ich an Mass Effect liebe", wirft Gavin ein. "Es ist wirklich großartig in dem, was es macht."
Als ich mich über die Aussage freue, und das ganz ehrlich, setzt er fort. "Ernsthaft: Die besten Gaming-Momente der letzten sechs Jahre hatte ich in Mass Effect 3. In einer Szene musste ich das Spiel anhalten, weil ich zitterte, wie diese Entscheidung präsentiert wurde. Die Menge der Entscheidungen, die sie [Bioware] und die wir anbieten können, sind aber zwei verschiedene Paar Schuhe."
Man kommt trotzdem nur schwer um die Vorstellung herum, wie ein reaktives, dialogverliebtes Spiel vom Kaliber eines Torment als Triple-A-Produktion aussehen würde. Ginge das überhaupt? "Oh wow...", ruft Gavin. "Es gibt Firmen, die Millionen von Dollar in die Hand nehmen und sie praktisch aus dem Fenster werfen können, weil etwas nicht ihren Standards entspricht. Das ist großartig, aber solche Unternehmen kannst du mit der Lupe suchen."
"Ich würde mich freuen, wenn jemand so etwas versucht und daraus ein Triple-A-Spiel macht", sagt Colin. "In den vier Jahren Entwicklung hatten wir nicht mal die vollen Ressourcen. Es hat sehr lange gedauert, die Reaktionen der Umwelt so auszuarbeiten, wie wir sie uns vorgestellt haben. Das auf einer Triple-A-Skala... keine Ahnung, dazu könnte ich nicht mal eine Schätzung abgeben, weil so etwas niemand zuvor versucht hat, denke ich."
"Wenn wir 500 Buchstaben für eine Actionszene oder eine Erinnerung schreiben und merken, das ist Bullshit, verlieren wir nicht dieses viele Geld."
Und wie viel hier drin steckt! Beim ersten Mal brauchte ich eine Dreiviertelstunde vom Beginn des Bloom-Abschnitts bis zu einem bestimmten Punkt. Beim zweiten Mal, alle Dialoge weggeklickt, zielgerichtet geradeaus, keine Sekunde über eine Entscheidung oder irgendwas nachgedacht, waren es gerade mal fünf Minuten. Sieht wohl mehr als schlecht aus für ein Triple-A-Torment, wenn wir niemanden finden, der genug Millionen, Menschen und Jahre auf ein solches Projekt zu werfen bereit ist. "Ich weiß nicht, ob ich so etwas gern machen würde", meint Colin. "Ich auch nicht", stimmt Gavin zu.