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Trauma Center: Second Opinion

Schwester, die Wiimote bitte!

Otto Normal und seine Familie haben derzeit viel Spaß. Und das liegt in der Hauptsache an dem kleinen Kasten, der porzellanartig schimmernd und hochkant neben dem Stubenfernseher thront. Wer sich am Abend über die Buchsbaumhecke und an den Rosenbeten vorbei in den Vorgarten schleicht, wird am Wohnzimmerfenster Zeuge eines – vor sechs Monaten noch – undenkbaren Ereignisses. Man sieht den Mittvierziger Familienvater mit seiner bezopften Tochter kichernd eine perlweiße Fernbedienung um die Wette schütteln, während die Mutter zufrieden zuschaut, kalte Getränke reicht und im Wechsel mit dem Mädchen sogar selbst Hand anlegt. Kein Zweifel, Wii macht glücklich. Alle spielen zusammen, lachen zusammen und freuen sich zusammen am zugänglichen Konzept. Wii verwirklicht genau die Philosophie, die sich auf der letzten E3 aus Reggie Fils-Aimes Mund noch so „weit hergeholt“ angehört hatte.

Grey's Anatomy-Gucker sind halt klar im Vorteil.

Wer die Familie kennt, wird beim verstohlenen Spannen durchs Panoramafenster aber feststellen, dass einer fehlt: Normal Junior hält schon seit Ende Dezember sämtliche Highscores – ist sozusagen Meister aller Wii-Klassen – und widmet sich seitdem wieder vermehrt seiner Xbox (oder eben PlayStation – ich werd den Teufel tun und auch noch die Dachrinne hochklettern). Er weiß nicht mehr so recht, „was das Gewackel soll“. Anfangs war es schon ganz witzig, aber die Spiele waren zu simpel gestrickt (Rayman Raving Rabbids, Wii Play), um ihn langfristig zu motivieren. Oder zu umständlich (Splinter Cell: Double Agent ) und unzuverlässig (Tiger Woods 2007), um genauso viel Spaß zu machen wie auf den anderen Konsolen. Alles nur Vermutungen meinerseits, sicher, aber es scheint fast, als hätte Wii den Menschen, auf deren Hobby-Liste „Videospiele“ die Pole Position einnehmen, derzeit noch nicht allzu viel Mehrwert zu bieten.

Dabei ist das Spiel, das mich leicht Lügen strafen könnte, bereits fertig gestellt und in den Vereinigten Staaten seit dem Stapellauf des Wii zu haben: Trauma Center: Second Opinion begeistert selbst stoischste Wiidienst-Verweigerer mit seinem Einfallsreichtum und seiner Coolness. Eine Coolness, die nur jemand haben kann, der tagtäglich mit beiden Händen im offenen Brustkorb übel zugerichteter Unfallopfer Eingeweide sortiert. Die Vorlage Under the Knife gilt auf dem DS bereits als Vorzeigetitel, der mit kreativem Spieldesign die Steuerungsmöglichkeiten des streichelbedürftigen Handhelds optimal ausnutzt. Das Remake - Second Opinion - will nun noch einen Schritt weiter gehen und Euch noch unmittelbarer ins Geschehen versetzen!

Mit dem Ultraschall spürt Ihr die wandernden Thromben auf.

Wo Ihr Eure jeweils schwächere Hand in der DS Version nur dazu genutzt habt, das zierliche Handheld in Eurem Schoß zu fixieren, nach bereitgestellten Snacks zu greifen oder Euch am Riecher zu kratzen, sorgt Ihr Euch auf dem Wii beidhändig um Leib und Wohl der virtuellen Patienten. Euer Körpereinsatz beschränkt sich nun nicht mehr auf das bloße Zeichnen und Markieren mit einem viel zu klein geratenen Füller, vielmehr verstehen sich die Eingabegeräte als Verlängerung Eurer Arme, die Euch endlich bis in den Bildschirm – und in Eure Patienten – hineingreifen lassen. Ein Kniff, mit dem Second Opinion bei Euch ein ganz eigenes Gefühl der Direktheit vermitteln will.

Die vielfältigen Möglichkeiten liegen auf (bzw. in) der Hand. Beispiel: Ihr wählt per Analogstick die Pinzette. Intuitiv und ohne - wie auf dem DS - die betroffene Wunde aus den Augen zu verlieren oder davon weg zu zeigen, drückt Ihr nun Daumen- und Zeigefingertaste und packt Ihr den schartigen Fremdkörper, der aus der Milz des Patienten herausragt. Nur noch eine vorsichtige Zieh-Bewegung – weg vom Bildschirm – und Ihr habt dem armen Teufel weitere innere Verletzungen erspart. Gibt es aufgrund der vielen hübschen Anime-Schwestern doch mal Kammerflimmern, setzt Ihr dem Opfer mit beiden Händen den Defibrilator auf die Brust. Simultanes Betätigen beider Trigger lanciert dann den rettenden Stromstoß. Zersplitterte Knochen hingegen rotiert Ihr durch eine entsprechende Bewegung solange, bis das morbide Puzzle komplett ist. Und so sehr man auch die DS-Notaufnahme vor ziemlich genau einem Jahr loben wollte und musste: Second Opinion erweckt den Eindruck, dass die Marke einzig und allein für den Wii bestimmt war.

Offenbar ist man auch bei Atlus dieser Meinung gewesen. Schließlich ist Second Opinion nur eine Revision des ersten Teils. Story, Charaktere und Missionen der DS-Version mussten sich kleineren Eingriffen unterziehen, bleiben aber weitestgehend intakt. Natürlich wurde die Optik des Interfaces und der Operationen deutlich geliftet, trotzdem möchte sich dieser Titel alleine über das neuartige Spielgefühl verkaufen. Die Zeichen hierfür stehen jedenfalls ganz ausgezeichnet. Fragt sich nur, wie lange wir noch warten müssen, bis Ihr, wir und Normal Junior endliche unsere eigene Diagnose stellen dürfen.

Für Trauma Center: Second Opinion ist bislang kein Releasetermin in Europa bekannt.

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