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Warum Titanfall mein 'Shooter der Herzen' wird...

... und warum mir E-Sport und Resolutiongate am Buckel vorbeigehen.

Ein Teamkamerad neben mir sinkt zu Boden, dem nächsten Schuss des Snipers entgehe ich nur um Haaresbreite. Der feindliche 'Pilot' hat es sich auf dem Dach gegenüber gemütlich gemacht und dezimiert unsere KI-Mitstreiter im Dutzend. Der Kollege neben mir erkennt die Lage und klopft mir auf die Schulter. Wir sitzen gerade bei EAs Titanfall-Event in München an einem langen Tisch voller PCs. Im Nebenraum hämmern Spielejournalisten auf Xbox-One-Gamepads herum. Leider kein plattformübergreifendes Spiel, aber eine gute Gelegenheit, beide Versionen zu begutachten. "Follow me", bittet der Kollege mit finnischem Akzent, dann rennt sein Pilot zum Hinterausgang.

Wir nähern uns dem Gebäude von der Rückseite, um nicht dem Sniper vor die Flinte zu laufen. Dort stehen wir plötzlich vor einer senkrechten Wand - normalerweise gäbe es keine Chance, unbemerkt auf das Dach zu kommen. Doch der Finne nimmt Anlauf, vollführt einen Doppelsprung, läuft ein paar Meter die Wand entlang nach rechts, springt ab, landet an einem benachbarten Mauerrest, stößt sich wieder ab und kommt nach einem weiteren Doppelsprung auf dem Dach zum Stehen. Shinobi meets Parcours. Ich bin beeindruckt. Nicht nur, weil ihm diese akrobatische Meisterleistung auf Anhieb gelingt, sondern weil ich kurz darauf auf demselben Weg folgen kann. Die Steuerung von Titanfall ist ohne Tadel, die Manöver gehen nach wenigen Minuten flüssig von der Hand, ob mit Maus und Tastatur oder per Gamepad. Zur Not durchläuft man das ausgezeichnete Tutorial und hat zehn Minuten später alle Moves in petto. Dass der Sniper wenig später einem Nahkampf-Takedown meines Kameraden zum Opfer fällt, ist die Krönung dieses Intermezzos.

Yehaaw! Auf einem Mech Rodeo zu reiten und ihm Kugeln in die Metalldärme zu jagen ist genau mein Ding!

Es gibt an diesem Tag viele solcher Momente, in denen mir Titanfall ans Herz wächst. Der Titel will gefallen. Er schenkt Erfolgserlebnisse, wo andere Mehrspieler-Shooter euch erst einmal hundertfach ins Gras beißen lassen. Ob die Profi-Klientel Titanfall in ihren Laufwerken duldet, ist daher alles andere als ausgemacht. Die Starterpistole? Zielt automatisch. Sogar auf mehrere Feinde gleichzeitig. NPC-Soldaten tummeln sich auf dem Schlachtfeld als Kanonenfutter und zur Rückendeckung. Ein zeitlich begrenzter Tarnmodus erschwert feindlichen Scharfschützen die Arbeit. Die Steuerung ist - wie gesagt - eingängig und erlaubt kinderleicht spektakuläre Manöver. Im Cockpit eines Titan stürmen sogar Anfänger selbstbewusst an die Front. Ob E-Sportler den Titel ernst nehmen werden? 60 FPS sagen "ja", der Rest sagt "denke eher nicht". Ist mir aber wurscht. Ich finde das Spiel erfrischend und habe Spaß.

Ein Rosinenbrötchen für Kritiker

Das Urteil "Call of Duty mit Mechs" hörte ich recht häufig während des Events. Dass sich der Titel spielerisch wenig abhebt von den CoDs und Battlefields da draußen, lässt sich kaum bestreiten. Auf zwei Karten spielten wir die üblichen Modi: Team-Deathmatch, 'Last-Titan-Standing' (sind all eure Roboter zerstört, habt ihr verloren) und 'Hardpoints' (drei Punkte erobern und halten). Respawn Entertaiment serviert eher Konsenssoße als Innovationen. Immer den Publikumsgeschmack im Blick. Es gäbe trotzdem genug Stoff, um das Spiel zu zerpflücken.

Mensch gegen Killermaschine - nicht unbedingt ein ungleicher Kampf.

An der Bildwiederholrate gab es (wie erwartet) nichts auszusetzen, doch auf dem PC sah Titanfall dank höherer Auflösung am schönsten aus

Zum Beispiel die Entscheidung, nur sechs menschliche Spieler pro Seite ins Feld zu lassen. Die wird von Respawn leidenschaftlich mit internen Tests, Übersichtlichkeit und Gameplay begründet. Ich würde das Dutzend zusätzlicher KI-Soldaten trotzdem lieber durch menschliche Pendants ersetzen können. Der Fokus auf 60 FPS ist löblich, doch 'Resolutiongate' bleibt ein heißes Eisen. Ich habe beide Testbuilds auf dem Event gesehen. An der Bildwiederholrate gab es (wie erwartet) nichts auszusetzen. Doch auf dem PC sah Titanfall dank höherer Auflösung schöner aus. Insgesamt schärfer. Die Kanten verliefen dank moderner Hardware unterm Tisch (Intel I7-4770 @ 3,4 GHz, 16 GB RAM, Nvidia GeForce GTX 770, Win7 64 Bit) sauberer als auf der Xbox One nebenan.

Sowohl auf Microsofts Next-Gen-Konsole als auch am PC trübten gelegentlich verwaschene Texturen das Gesamtbild. Die bemerkt man nur während der seltenen ruhigen Momente, wenn man vor einer betroffenen Wand oder einem unscharf texturierten Autowrack steht. Könnte allerdings auch der Testfassung geschuldet sein. Wer mehr ins technische Detail gehen will, sei auf die Analysen der englischen Kollegen verwiesen, deren Videos ich hier nochmals eingebettet habe. Darin gewinnt ihr einen recht präzisen Eindruck vom Spiel in Bewegung. Es schaut toll aus, aber eine Grafikreferenz wird Titanfall nicht.

Titanfall-Gameplay aus dem Angel-City-Level von der Xbox One in 60 Frames pro Sekunde. Adobe Flash mag es nicht besonders gerne, Videos in hohen Framerates darzustellen - wir empfehlen daher den Chrome-Browser oder ein iOS-Gerät für das beste Resultat.

Selbst Laien fällt das Fehlen moderner Engine-Gimmicks wie prozedualer Zerstörung oder interaktiver Elemente ins Auge. Bäume, Zäune, Sandsäcke, Container oder Autowracks sind kugelsicher und wackeln nicht einmal, wenn man eine Raketensalve in sie pumpt. Schalter und Knöpfe für Türen und Tore gab es auf den beiden gezeigten Schlachtfeldern des Events nicht. Auch wenn ich die Designentscheidung dahinter verstehe (weniger Unwägbarkeiten beim Balancing), hätte es definitiv Charme, mit meinem Titan eine Hauswand einzureißen, damit meine Kollegen am Boden den Eroberungspunkt leichter erreichen. Shooter-Profis mögen solche Mätzchen schmähen, aber wenn ich im Cockpit eines stählernen Kolosses durch Straßenschluchten stapfe, will ich auch etwas kaputt machen - Spielbalance hin oder her.

Bäume, Zäune, Sandsäcke, Container oder Autowracks sind kugelsicher und wackeln nicht einmal, wenn man auf sie schießt.

Mein Kumpel ist aus Panzerstahl

Solche Makel sind erst einmal vergessen, sobald der eigene Titan vom Himmel stürzt, euch auf Knopfdruck aufsammelt und mit sanftem Griff ins Cockpit setzt. Die Mechs sind stark gepanzert und besitzen selbst aufladende Schilde, ihre Schießprügel sind XXL-Varianten von Sturmgewehren und Raketenwerfern. Springen können sie nicht, dafür per "Dash" horizontal übers Schlachtfeld gleiten. Dank eines magnetischen Extraschilds fangen sie Projektile in der Luft und schleudern sie beim Loslassen der Taste automatisch auf den Gegner zurück. Infanteristen trampeln die Maschinen einfach nieder, andere Titanen bearbeiten sie mit Fäusten. Dabei wird schon mal der feindliche Pilot aus dem Cockpit gerissen, wenn sich dessen Mech im "Doomstate" befindet, also unaufhaltbar wenige Sekunden später den Geist aufgibt. Per Schleudersitz bringt ihr euch in dieser Situation in Sicherheit - nebenbei praktisch, um sich aus der Vogelperspektive einen Überblick zu verschaffen.

Sehr nett gelöst ist die Fernsteuerung der Mechs. Ihr könnt jederzeit aussteigen und euren Koloss sich selbst überlassen. Er wird sich automatisch gegen Angreifer verteidigen und die Stellung halten, während ihr zum Beispiel einen unzugänglichen Eroberungspunkt kassiert. Alternativ folgt euch der Titan auf Knopfdruck oder findet euch nach dem Respawn wieder - sofern er nicht unterwegs in Stücke gesprengt wird. Die KI eurer Roboter ist nicht übel, hat aber der menschlichen Tücke nur wenig entgegenzusetzen.

Bodentruppen sind den Mechs nämlich nicht zwangsläufig unterlegen. Jeder Soldat trägt eine "Anti-Titanen-Knarre" im Gepäck. Aufschaltende Raketen oder ein Schwarm Stinger-Missiles werden den Kampfrobotern schnell gefährlich, wenn sich mehrere Schützen in einem Gebäude versteckt halten. Später schaltet ihr Granaten frei, deren EMP-Impuls den Titanen übel zusetzt. Wagemutige können die Kolosse wie beim Rodeo reiten. Ein Doppelsprung genügt, schon haltet ihr euch automatisch am feindlichen Titan fest, öffnet eine Klappe und entleert eure Magazine in die empfindliche Elektronik. Der Pilot hat da keine andere Möglichkeit, als auszusteigen und euch von seinem Mech zu ballern, sofern er keine Abwehrmaßnahmen wie Elektrowolken vor dem Kampf geladen hat. Auch auf den Schultern verbündeter Titanen könnt ihr sitzen, um von erhöhter Position aus den Feind aufs Korn zu nehmen. Im Test war die Angelegenheit aber zu wackelig, als dass man wirklich einen Vorteil davon gehabt hätte. Trotzdem ein tolles Gefühl.

In unserem zweiten 60-FPS-Video rückt die Fracture-Map in den Mittelpunkt. Beide Videos auf dieser Seite stehen auch zum Download zur Verfügung.

Darum geht es in Titanfall: das tolle Gefühl. Mein grimmiges Grinsen, wenn ich dem Tod noch einmal per Schleudersitz von der Schippe gesprungen bin und die Explosion meines Titanen den Gegner gleich mit zerlegt. Oder wenn ich wie Spider-Man von Wand zu Wand hüpfe. Oder der Jubel, wenn ich einen 'Titanfall' aus dem Orbit so abpasse, dass er einem feindlichen Mech auf dem Kopf landet. Oft merkte ich erst hinterher, dass ich eine Gruppe KI-Soldaten per Granate ausgeschaltet hatte und keine menschlichen Kollegen. Mein Erfolgserlebnis schmälerte das komischerweise wenig. Man verdient dadurch Erfahrungspunkte zur Freischaltung neuer Goodies und erhält "Burncards" für den einmaligen Gebrauch (Boni und Spezialwaffen). Ich hatte sogar den Eindruck, schneller in den nötigen Flow zu kommen, um gegen die menschlichen Kontrahenten im Feld zu bestehen. Sehr gespannt bin ich auf die versprochenen Story-Elemente und deren Verflechtung mit dem Mehrspielermodus. Davon sah man während des Events leider nichts.

Viele gute Ideen stecken in Titanfall und die bombastische Präsentation lässt selbst Mech-Verächter nicht kalt. Ob die stählernen Giganten allein ausreichen, um langfristig der Shooter-Konkurrenz Paroli zu bieten? Gerade im Profibereich hab ich da meine Zweifel. Aber ist das ein Problem? Mitnichten. Die schnellen Gefechte mit den schweren Maschinen wissen trotz kleinerer Mängel zu gefallen. Die Titanen werden sicher Liebhaber finden, die den Titel länger als ein, zwei Monate in ihrem Laufwerk parken. Auch wenn Respawn kein Spiel für E-Sports-Veteranen geschaffen hat - das Prädikat "Shooter der Herzen" haben die Kolosse für mich schon gewonnen. Es dürfte vielen Spielern da draußen ähnlich ergehen, sobald in Kürze die Betaphase startet.

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Frank Erik Walter Avatar
Frank Erik Walter: Tagsüber arbeitet Frank als freier Journalist. Nachts jagt er seit 2010 flüchtige MMOs für Eurogamer.de und die MMO PRO. Skittles und Tetris sind sein Kryptonit.
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Titanfall

Xbox One, Xbox 360, PC

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