Watch Dogs Legion Test: Widerstand hat viele Gesichter
... auch wenn ein konkretes schöner wäre.
Watch Dogs Legion Test - Schwierige Situation, in der Watch Dogs Legion da steckt. Auf der einen Seite hat es ein Poster-würdiges Feature wie "Play as anyone" im Gepäck, bei dem man so gut wie jeden Charakter im virtuellen London für die Hacker-Widerstandsgruppe Dedsec rekrutieren kann, auf der anderen war die bunte Bande um Marcus Holloway und Wrench nach anfänglicher Distanz (und einer zugegebenermaßen ordentlichen Kelle Fremdscham) dann plötzlich doch so sympathisch, dass man in Legion vergleichbar markante Figuren spürbar vermisst.
Mehr noch, man schaut beim eigentlich sehr spannenden Feature eines theoretisch unendlichen Figurennachschubs, den man dank optionalem Permadeath auch durchaus ordentlich verschleißt, umso genauer hin. Und dann erkennt man sie, die Mechanismen, die dahinter stecken, wenn man die komplette Zivilbevölkerung einer Spielestadt spielbar machen will.
Erzählt einem jemand, was in Watch Dogs Legion geht, in nur ein, zwei Sätzen, klingt es wie Zauberei. Oder? In der Praxis merkt man aber - auch wenn man fast immer ordentlich unterhalten ist -, nach ein paar Stunden, dass im Grunde "nur" eine Exceltabelle unterschiedlicher vage zueinander passender Variablen und Textversatzstücke ausgelesen und munter kombiniert wird, um den Anschein von Individualität zu wecken. Man muss es Ubisoft zugutehalten: Es funktioniert gut genug, dass man sich motiviert einen schlagkräftigen und unterhaltsamen Trupp an Computerleutchen zusammensucht. Mindestens genauso oft scheint am Ende aber doch eine gewisse Austauschbarkeit durch, die verhindert, dass ich zu irgendwem hier eine wirkliche Bindung aufbaue.
Im durchaus coolen Intro-Level, der einen Spannungsgrad erreicht, an den das gesamte Spiel nicht wieder rankommt, stimmt die Chemie der eingangs noch geskripteten, festen Charaktere untereinander vollkommen: Sabine Brandt, Londoner Anführerin von Dedsec, Helfer-KI-Bagley und ein 007-Verschnitt auf Bombenentschärfungsmission haben einen unterhaltsamen, lebendigen Rapport miteinander. Die Dialoge sind gut geschrieben und verlieren sich auch nicht im verschwörerischen Ubisoft-Kleinklein, das sonst allzu oft Namen-/Daten-/Fakten-Lawinen mit fesselnder Erzählkunst verwechselt und gerne redet, ohne wirklich viel zu sagen. Doch alles, was danach an Story kommt, macht die üblichen ... ich will nicht "Fehler" sagen. Aber sie lassen Chancen liegen.
Aufbegehren! ... gegen was nochmal?
Unterm Strich fühlt es sich vor allem ein bisschen nach Stückwerk an. Hat man nach dem Intro-Level ein klares Problem und eine eindeutige Bedrohung vor Augen, zerfasert es direkt wieder mit der ersten "echten" Mission, wenn es grob drei verschiedenen Fraktionen an den Kragen gehen soll, deren Bezug zur einleitenden Katastrophe durch die Gruppierung (?) Zero Day man selbst erst herstellen muss. Legitim, aber man lässt viel Schwung vom Anfang liegen. Dabei haben alle Geschichtchen gute Ansätze, die Bösewichte sind gut gesprochen und gespielt, aber irgendwo hapert es im Kleinen immer mit der Glaubwürdigkeit. Das sorgt dafür, dass man diese bedrohlich reale Entwicklungen spiegelnde Zukunftsvision eines totaler Überwachung unterworfenen Großstadtlebens einfach nicht ernst nehmen kann.
Ähnliches konnte man schon bei Far Cry 5 beobachten, das drohte, Dinge über Religion und Fundamentalismus zu sagen zu haben, dann aber alles am Ende doch mit esoterischer Wischiwaschi-Attitüde glattbügelte. Den realen Bezügen war das Spiel so weit entrückt, dass es als Parabel auf das Zeitgeschehen komplett ungeeignet war, fast schon gefährlich einfältig wirkte. "Es ist doch nur ein Videospiel!", schätze ich. In Watch Dogs Legion ist es vor allem der Chef der privaten Sicherheitsfirma Albion, unter dessen Knute die Londoner gerade zu leiden haben. Nigel Cass zwirbelt mit seinem aufgewärmten Winter Soldier-Komplott ein bisschen zu sehr an seinem nicht vorhandenen Schnäuzer - Ubisoft demonstriert so ein einfältiges Verständnis davon, wie autoritäre Systeme entstehen, Wurzeln schlagen und sich verfestigen.
Gut, ich bin auch nicht des politischen Kommentars wegen hier. Ich sag es nur, weil es mich tatsächlich hin und wieder aus der Welt riss, weil es so unglaubwürdig war. Am Ende funktioniert dieses kaputte London trotzdem, weil es vor allem aus künstlerischer Sicht fabelhaft zum Leben erweckt und dann in Ketten gelegt wurde - und weil die Bilder auch so noch stark und abschreckend genug an eine mögliche Zukunft erinnern. Kaum auszudenken, wenn Ubisoft hier Akteure zu platzieren gewusst hätte, die über mehr Facetten verfügen als nur ein psychopathisches Law-and-Order-Verständnis (das natürlich mit einem fast schon Comic-Buch-artigen Trauma gerechtfertigt wird), technokratische Verblendung oder B-Schocker-artiges Menschen-als-Ware-Denken. Es ist zweckmäßig und gut präsentiert. Aber es bringt diese sehr farbenfroh umgesetzte Spielwelt eben nicht zu der Entfaltung, die sie verdient hätte.
Ganz normale Londoner?
Ok, fürs erste genug geschimpft. Das Spiel an sich ist nämlich einmal mehr ziemlich ordentlich geworden, wenngleich ich den zweiten Teil deutlich stärker fand. Es macht Spaß, Figuren mit wenigen, aber mit zunehmend besseren und manchmal einfach nur lächerlichen Fähigkeiten zu entdecken und in einer Mission von eurer Sache zu überzeugen. Schon hier schlägt einem früh der Zufallsgenerator ins Gesicht, wenn etwa ein gestandener MI-6-Agent mit unsichtbarem Raketenauto meinem Bauarbeiter attestiert, dass er aussähe, als käme er überall rein und ob er ihm nicht aus der Bredouille helfen könnte.
Die meiste Zeit schichtet das Spiel in den Biografien der Charaktere genug kleine Details übereinander, dass man sich, wenn man sich richtig reinhängt ins Spiel, vor seinem geistigen Auge durchaus ein Bild dieser Figuren malen kann. Aber irgendwann sieht man einfach nur noch wandelnde (und mit nur bis zu einem halben Dutzend sehr überschaubaren) Waffen-, Skill und Perk-Loadouts, zu denen man nur greifen muss. "Erin Zhan, Domina, Nietenknüppel, berühmt (fällt in der Öffentlichkeit auf)." "Casper Jensen, Poet, chronischer Schluckauf, Bazooka". "Robert Lewandowski, Fußballspieler, körperlich fit." Ja, nee, is' klar.
Manche haben sogar nur eine Waffe und keine anderen spielerischen Merkmale, was - weil es keine Charakterweiterentwicklung oder Stufenaufstiege gibt - schnell für eine klare Hackordnung sorgt. Leute mit Makeln wie Flatulenz oder Berühmtheit kann man in diesem Stealth-lastigen Spiel einfach nicht so gut gebrauchen. Andere, die keine Waffen oder wenige brauchbare Fähigkeiten haben, die den - das kann man eigentlich nicht oft genug sagen - fast durchweg Stealth belohnenden Missionen nicht zu Gute kommen, schickt man irgendwann in Ruhestand, um sie gegen jemand besseres einzutauschen, der einem auf dem Bürgersteig entgegenkam. Das ist Teil des Reizes dieses Spiels - aber reduziert auch den "Spiel als wer du willst"-Faktor.
Wie so vieles an diesem Spiel funktioniert "Play as anyone" genau so oft, wie es scheitert. Hier und da habe ich atemberaubende Verfolgungsjagden und lustige Sandbox-Kettenreaktionen, die perfekt zu meiner inneren Fiktion über eine Spielfigur passen. Andernorts schreit mich die unverbindliche Beliebigkeit der Rekrutierungsmissionen, die auf jedermann und jede Situation zutreffen könnten, förmlich an. Es hilft nicht gerade, dass das Auftragsdesign sich seit dem zweiten Teil kaum weiterentwickelt hat und man häufig mehrmals in denselben Stützpunkt eindringt. Insgesamt kennt man das alles einfach schon ein bisschen zu gut:
Spinnendrohne nutzen oder Flugdrohne kapern, auskundschaften, Gegner ablenken/ausschalten, Keycodes runterladen, Lüftungsschächte durchkrabbeln, Schaltkreisrätsel lösen, kämpfen, fliehen. Fast immer sind es Variationen hiervon. Es sind fast immer hübsch designte Räumlichkeiten, es steuert sich gut und das Talentprofil eines Videospiel-Hackers wird solide abgefragt, aber irgendwann hat man halt seinen Lieblingscharakter - auch weil es zum Beispiel mit Hacker-Archetypen oder eben einer Geheimagentin am einfachsten ist - und spielt mit dem seinen Stiefel runter, ohne wirklich davon abzuweichen.
Du kommst hier nicht rein!
Ganz clever gelöst ist die Zugangsregelung, denn bestimmte Leute dürfen sich in gesicherten Bereichen annähernd unbehelligt bewegen. Als Sanitäter zum Beispiel im Bereich eines Krankenhauses. Und wenn ihr es schafft, einen Albion-Soldaten oder ein Mitglied der verbrecherischen Kelley-Family zu rekrutieren, habt ihr auch in deren Basen ein wenig mehr Luft und Ruhe. Das ist ganz clever gelöst. Auch Dedsec erweitert nach und nach seinen Technikpool und rüstet ihn auch auf (das Finden der gut versteckten Technikpunkte ist übrigens ein Highlight des Spiels). Aber die Charaktere bleiben, mit Ausnahme von Kleidung, die ihr kaufen könnt, gleich und eigentlich immer ziemlich spezialisiert. Ich mochte das, weil es mich zwang, ab und an dann doch mal auf jemand anderes umzusteigen.
Auch ist es nett, dass es durchaus im Rahmen des Möglichen ist, es sich mit eventuellen Dedsec-Kandidaten zu verscherzen. Jemand, der eurer Sache eigentlich abgeneigt ist, gelangt zum Beispiel zu einer neutraleren Haltung, wenn er sieht, wie ihr zum Beispiel seine Schwester vor einer Drangsalierung durch die Albion Truppen bewahrt habt. Das eröffnet euch wiederum eine Chance, die Person auf eure Seite zu ziehen. Das Spiel bekommt es ganz gut hin, dass sein London dicht bevölkert anmutet, und dass euch dennoch immer mal wieder Leute mit Verbindungen zu etwaigen Rekruten über den Weg laufen. Hier schreibt Watch Dogs Legion seine besten Geschichten - die, an denen ihr aktiv beteiligt seid. Ich habe übrigens mit Permadeath gespielt und bin zwei, drei glorreiche und genauso viele wirklich doofe Tode gestorben, die ich dem Spiel übelnahm, weil mich das Spiel förmlich mit Gegnern überrannte und es einfach kein besonders guter Shooter ist. Von The Division 2 sind wir hier ein gutes Stück entfernt.
Technisch macht Legion einen guten Eindruck: Die Stadt sieht toll aus, aber auf meinem i9 10850K mit Geforce 2080Ti lief es mit zunehmender Spieldauer (bis zum nächsten Neustart) immer schlechter, vor allem in 4K und irgendetwas an der Wasserdarstellung zwang die Bildrate selbst mit DLSS noch massiv in die Knie. Unsere englischen Kollegen hatten sogar einen Gamebreaker, als deren Xbox Series X überhitzte und sich abstellte. Aber viele dieser Probleme sollen mit einem Hotfix am Freitag behoben werden.
Watch Dogs Legion Test - Fazit
Aller gimmickhafter Taschenspielerei - und allem spürbaren Verlust der Figuren aus dem Vorgänger - zum Trotz hat das neue zentrale Feature, eine Bewegung aus dem Volk heraus aufzubauen, maßgeblichen Anteil daran, dass sich das dritte Watch Dogs über die Länge seiner Kampagne rettet. Allein auf dem Rücken seiner sonstigen spielerischen Qualitäten - als Watch Dogs 2 in London - wäre das vermutlich nicht der Fall gewesen. Dazu sind die Mechanismen und Werkzeuge zu bekannt und seine Abläufe gleichförmig.
Vielleicht bin ich auf dem Holzweg, wenn ich in einem Open World Spiel nach Handlungsanweisungen für eine Welt in Schieflage suche. Jetzt, wo ich das schreibe: ziemlich sicher sogar. Dann wiederum liegt letzten Endes auch eine Botschaft darin, dass man zusammen, wenn man sich gegenseitig hilft, eben doch klare Kante gegen Unterdrückung zeigen und Machtverhältnisse geraderücken kann. In dieser Hinsicht ist Legion, bei all seinen Versäumnissen, am Ende eben doch ein Erfolg.
- Entwickler / Publisher: Ubisoft
- Plattformen: PC, PS4, PS5, Xbox One, Xbox Series X (getestet auf PC)
- Release-Datum: 29.10. PC und Current Gen, Launch-Titel für Next-Gen
- Sprache: Deutsch, Englisch und weitere
- Preis: ca. 70 Euro, kosmetische Mikrotransaktionen