Weird West - Test: Westlich von Fallout, Ultima und Dishonored geht es mächtig schräg zu
Raphael Colantonios erstes Spiel nach Prey macht fast alles richtig, was eine "Immersive Sim" braucht - was ihm nicht gelingt, erzählt Alex.
"Du machst kein Spiel mehr, sondern ein Produkt" - das war für Dishonored- und Prey-Schöpfer Raphael Colantonio ein Grund, Arkane und damit die Triple-A Entwicklung zu verlassen und mit seinem neuen Studio Wolf Eye wieder ganz von vorne anzufangen. Für jemanden, der kreative Ausdrucksmöglichkeiten und Improvisation als wichtigsten Treibstoff seiner Spiele sieht, ein nachvollziehbarer Haken an der Sache mit Videospiel-Großproduktionen. Jetzt ist er mit Weird West bei der Hand - und das fühlt sich tatsächlich danach an, als hätte er komplette freie Hand dabei gehabt, seine zentralen Einflüsse aus den Rollenspielen der alten Zeit in eine ihm ureigene Arbeit zu kanalisieren.
Weird West Test - Inhalt
Wer mit älteren Referenzen wie Ultima 7 und den ersten beiden Fallouts wenig anfangen kann, dem könnte man Weird West vermutlich recht treffend als ein "Dishonored von oben" bezeichnen, nur eben mit Horror-Western-Thema. Es ist ein Action-Rollenspiel, das seine Kämpfe auf dem Controller in Twin-Stick-Manier ausficht, und eine Weltkarte nach Art von Fallout 2 vor euch ausrollt. Entdeckt noch und nöcher Siedlungen, Minen, Plantagen, Hexenorden, Lager von schweinsköpfigen Kreaturen und pickt euch aus den Geschichten, die ihr so hört, die heraus, die ihr verfolgen möchtet.
Weird West - fünf Kampagnen für ein Hallelujah!
Was nicht bedeutet, dass es nicht auch eine klare Linie gäbe. Weird West besteht gleich aus fünf Kampagnen, die je ihre eigene Hauptquest haben. Ihr startet als Ex-Kopfgeldjägerin Jane. Nach der Ermordung ihres Sohnes und Entführung ihres Mannes durch ein Rudel Kannibalen buddelt sie ihre Schießeisen wieder aus und nimmt die Verfolgung auf. Diese Sorte Hauptquest eignet sich selten für die komplett freie Erschließung einer gar nicht mal so kleinen Welt. Wer will schon in der Sandbox nach coolen Nebenquests buddeln, wenn das Leben einer geliebten Person auf dem Spiel steht? Das Coole daran: Diese Welt ist nach der Rettung von Janes Gatten immer noch da, auch wenn ihr sie dann durch die Augen des nächsten der fünf spielbaren Charaktere ergründet. Ohne das Inventar, die coolen Waffen oder die freigeschalteten Fähigkeiten der letzten Figur, wohl aber mit deren passiven Perks.
Der in einen grotesken Schweinemenschen verwandelte Namenlose hat zwar auch einen triftigen Grund, seine persönlichen Belange zu priorisieren - die Nase sitzt irgendwie nicht richtig im Gesicht -, aber die Zeit drängt nicht so sehr. Für mich war das nach etwa acht bis zehn Stunden wohlig vertrauter und schön frei aufgezogener "Schießen, Schleichen oder Austricksen?"-Action auch gleich der größte Knalleffekt. Vom Nordosten der Karte, wo mein Schweinemenschenleben begann, zog es mich trotz eines ersten Hauptquest-Hinweises ganz in der Nähe erst einmal in den weiten Südwesten ans andere Ende der Karte. Eine Reise, zwei Spieltage zu Fuß - zu Janes Farm.
Und siehe: Meine ehemalige Spielfigur lebt dort noch immer mit ihrem geretteten Mann, und erkennt an meinem Hals dasselbe Brandmal, mit dem auch ihre Tortur begann. Das überzeugt sie, sich mir trotz meiner horrenden Erscheinung als Partymitglied anzuschließen, wodurch ich auf ihr komplettes Inventar zugreifen konnte. Ihre Waffen, ihren prall gefüllten Bund nützlicher Schlüssel sowie ihre Talismane, Westen und - insbesondere - ihre bis zum Schluss nicht verwendeten Upgrade-Ressourcen waren jetzt wieder mein.
Ich muss sagen, diese Art von Progression und Party-Aufbau gefällt mir außerordentlich, denn die aktiven Fähigkeiten sollte man beim Wechsel von einer gerissenen Kopfjägerin und zu einem unzerstörbaren Tiermensch-Berserker ohnehin besser neu aufbauen. Überhaupt hat mich das Wiedersehen mit Jane sehr gefreut, auch wenn ich nun nicht einmal mehr indirekte Kontrolle über sie ausübe. Sie macht - wie alle zuvor angeheuerten Helfer - einfach nach, was ich tue - und hat die Lage meist bestens unter Kontrolle. Sie zu sehen, wie sie mit den Skills aufräumt, die ich ihr beigebracht habe, macht mich beinahe ein wenig stolz. Und zusammen nach der Lösung des großen Meta-Rätsels zu machen, das alle Charaktere verbindet, ist eine besondere sekundäre Motivation, die noch weit über die persönlichen Geschichten der einzelnen Figuren hinausgeht. Faszinierend.
Ansonsten ist zwar die Mixtur und Perspektive anders als gewohnt, aber ihr wisst eigentlich, wie das hier läuft. Jede Quest, ob nun optional oder zentral für die Geschichte, gibt euch fast immer mehrere Möglichkeiten, sie zu lösen. Würgeattacken aus dem Hinterhalt oder "guns-blazing" unter Einbezug von Fallen und Umgebungsobjekten sind nur zwei Optionen. Versteckte Wege oder einfach nur den Schlüssel zur Tür zu besorgen, die euch den Weg versperrt, sind zwei weitere und fast immer existieren alle gleichberechtigt nebeneinander.
Auch gibt es bisweilen schöne Momente, die zeigen, dass diese Welt ein Gedächtnis hat. NPCs nehmen sogar Notiz von euch. Werdet ihr gesehen, wo ihr nicht hingehört und werden dort Leichen entdeckt, zählen die Nichtspielercharaktere eins und eins zusammen. Das schadet eurem Ruf, was wiederum Gesetz und Kopfjäger auf euch aufmerksam macht - oder Mitstreiter dazu veranlasst, eure Party zu verlassen. Andernorts stellt euch so mancher aus einem Schusswechsel geflohener Bandit später als Erzfeind nach. Auch umgekehrt wird ein Schuh draus. Der im Kannibalenkäfig als Proviant gefangene Cowboy, den man rauslässt, weil man gerade den Schlüssel fand, wird zum Beispiel zum "Freund fürs Leben", der in einem harten Fight schon einmal urplötzlich auftaucht und das Blatt für euch wendet. Das sind schon coole Systeme, die hier nach vertrauter und bewährter Immersive-Sim-Art aus vielen kleinteiligen Spielmechanismen schöne Erlebnisse kreieren.
Wo der "schräge Westen" an seine Grenzen kommt
Dazu gehört natürlich auch, dass die Simulation manchmal nicht das macht, was sie soll - womit wir, denke ich, bei dem Teil der Kritik angekommen wären, wo ich anfange, zu meckern. Eben gelobtes "Gedächtnis" der Welt reibt sich hier und da zum Beispiel an der Tatsache, dass die NPCs außerhalb von Quests wenig mehr als bloße Stichwortgeber sind. Das führt dazu, dass "meine" Jane als Begleiterin eigentlich befreundete Figuren aus der ersten Kampagne nicht zu erkennen scheint.
Auch auf technischer Ebene hat die Simulation bisweilen Schwächen. Charaktere bleiben an anderen hängen, Partymitglieder stehen auf einmal dort, wo eigentlich kein normaler Mensch stehen sollte und kommen dort auch nicht wieder weg, bis man den Bereich verlässt. Und eigentlich gut außer Sicht von Feinden versteckte Leichen werden dennoch entdeckt. Genauso wie das Spiel euch immer und immer wieder Gelegenheiten gibt, eure eigenen Lösungen für Probleme zu finden, gehen oft Dinge schief, die man nicht auf dem Zettel hatte. F5 und F9 für Schnellspeichern und Schnellladen waren deshalb schnell meine besten Freunde.
In Sachen Design ist vor allem die Interaktion mit den vielen, vielen Umgebungsobjekten manchmal schwierig. Manipulieren könnt ihr immer nur Objekte, die eure Figur direkt anblickt - einen freien Mauscursor gibt es nicht - auf einem Tisch voller Unrat gezielt nur die paar Dollarmünzen aufzuheben, ist schon recht fummelig. Die größte Schwäche dieses ansonsten aber ziemlich beachtlichen kleinen Spiels ist das Kampfsystem, das in meinem Fall fast immer in einem wilden Durcheinander endete, egal, wie sehr ich plante und versuchte, Fallen zu stellen. Nicht nur, dass Freund und Feind gerne ein wenig kopflos über das Schlachtfeld rennen, auch die Steuerung ist ein wenig überladen.
Das gilt vorwiegend für das Gamepad. Alle Skills werden mit R1 aufgerufen und dann mit Daumentasten gezielt aktiviert. Allerdings gibt es zu jeder Zeit zwei Lagen davon: die Fähigkeiten der Figur und die der jeweils ausgerüsteten Waffe. Die Sequenz zum Beispiel Janes sechssekündige Zeitlupe aufzurufen, um dann ihren Revolver-Skill "Fächern" zu aktivieren, während ich mit dem rechten Stick ziele, und mit dem linken vielleicht noch hinter Deckung manövriere - das ging mir nie in Fleisch und Blut über. Bis zu dem Punkt, an dem ich mich überwiegend auf mein Zielwasser verließ und somit auf viele kreative Möglichkeiten im Kampf verzichtete. Immerhin: Nachdem ich vor ein paar Stunden auf Maus und Tastatur umgestiegen bin, muss sagen, dass mir die direkte Anwahl der Fertigkeiten per Hotkeys 1 bis 4 deutlich besser von der Hand geht.
Weird West - Test: Fazit
Weird West ist trotzdem ein wie frisch aus dem Fels geschlagener Gold-Nugget von einem Spiel. Seine Schönheit und Kostbarkeit erkennt man vielleicht nicht auf den ersten Blick, doch die inneren Werte sind unbestreitbar. Die auf die gute Art dreckig-räudige Gestaltung, die stimmungsvolle Vertonung und das schräge Szenario-Design haben es mir ebenso angetan wie die vielen, vielen Möglichkeiten spielerischer Entfaltung. Zugegeben, der fummelige und hektische Kampf rettet sich mit seinen Max-Payne-Ausweichrollen nur gerade so über die Spaßgrenze - aber bei meiner Spielweise ist er ohnehin eher selten von Belang. Mir geht es um die Geschichten, die Weird West erzählt und die Figuren, die ich durch meine Taten mit angenehmer Beinfreiheit verkörpern darf. Insofern: Gratulation, Herr Colantonio! Weird West hat wenig von dem gestriegelten und auf maximale Sicherheit gebürsteten "Produkt", das zu erschaffen Sie sich fürchteten. Es ist ein Spiel durch und durch!