Wer braucht schon FIFA? Retro Goal+ ist das ehrlichste Fußballspiel – und dafür liebe ich es
Ihr wisst, dass es stimmt.
Okay, gleich mal vorneweg: Es geht hier nicht darum, welches Fußballspiel das beste ist. In der ewigen Legendenliste altehrwürdiger Sporttitel kommt dieser Apple Arcade Pixelfußball vermutlich nicht so schnell unter. Aber er macht einige Sachen so erfrischend anders, dass ich mich gerade nicht davon lösen kann. Das ist so schlimm, dass ich mich jetzt gezwungen habe, mir ein anderes Toilettenspiel zu suchen – sonst blockiere ich das stille Örtchen den Rest des Tages (und so einiger kommender Tage). Denn so schnell, wie man hier von einem Match ins andere rutscht, ohne es zu realisieren, ist schlicht gefährlich.
Retro Goal ist schnell… aber nicht in dem Sinne, dass die frei erfundenen Sportsfreunde auf dem Screen schnell rennen oder die Bälle besonders wuchtig fliegen würden. Vielmehr ist es so aufs Wesentliche reduziert, auf das, was uns am Sport eigentlich interessiert, dass ich es für das ehrlichste Fußballspiel halte, das ich je erlebt habe. Es spricht mit den Mitteln des Game-Designs ein paar Dinge aus, für die man mich wohl nicht des Werder-Stadions als unerträglicher Schönwetter-Fan verweisen würde. Mir egal, denn, wie Retro Goal mir zeigt, ist echter Fußball sowieso doof.
Wie meine ich das? Nun, vielleicht nicht zu 100 Prozent ernst. Aber es liegt schon nicht gerade wenig Wahrheit darin, wie Retro Goal ein Match auf das herunterbricht, was wir eigentlich sehen wollen oder zumindest am liebsten sehen: Angriffe der eigenen Mannschaft. Die sind das Einzige, was zählt, denkt man mal darüber nach. Retro Goal sieht das genau so, denn rennt der Gegner mit dem Leder gegen euch an, werden selbst seine größten Heldentaten mit öden Texteinblendungen abgespeist, damit ihr nur schnell selbst wieder am Drücker seid. Als ich das während des Downloads des Titels in einer App-Store-User-Bewertung las, dachte ich noch “welcher Trottel denkt sich so was aus!?”, aber beim Spielen selbst ist es genial.
Das Match findet also fast komplett in der gegnerischen Hälfte statt! Und ihr liebt das auch, sonst gäbe es nicht so viele Bayern-Fans. Gesteuert wird ausschließlich über Touch, ganz egal wo auf dem Display. Das funktioniert erstaunlich gut. Kurzer Wischer in die Richtung, in die gedribbelt werden soll. Zwei Wischer vorm nächsten Ballkontakt legen das Rund für einen Sprint weiter vor und Schüsse und Pässe zielt man durch Zurückwischen und Halten. Dabei geht das Spiel in eine Zeitlupe. Die dauert so lange, bis sich man euch den Ball abnimmt, was großzügiger klingt, als es ist. Selbst in Slo-Mo sorgt ein anstürmender Verteidiger noch für Druck und schmilzen gute Gelegenheiten rapide dahin, weil der Keeper langsam in die Ecke gurkt, die ihr euch gerade ausgeguckt hattet.
Man braucht diese Zeit wirklich, denn obwohl Flugkurve und Zielmarkierung für Landepunkt des Balls und eine Kopfballhilfe angezeigt werden, will jeder Schuss wohl platziert sein. Für diese Sorte 8-Bit-Fußball steckt da mehr Finesse drin, als ich gedacht hätte. Gerade, wenn die Keeper irgendwann so gut werden, dass man mehr Höhe riskieren muss, was gerne in einem Lattenschuss resultiert. Ich “fühle” diese Schüsse mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte. Das hier kann man erstaunlich “schön” spielen, was ja, wie ich bereits dargelegt habe, das Einzige ist, was uns interessiert. Die schönen Spielzüge unserer Mannschaft. Die Karrierehöhepunkte der anderen sind Stolpersteine zwischen euch und euren Einkünften. Die braucht ihr, um euch bessere Spieler zu kaufen oder Stadion, Trainingsanlagen und Jugendzentrum aufzurüsten.
Ein bisschen zynisch, wenngleich nicht weniger wahr, wird die “Ich sag’s wie es ist” Attitüde von Retro Goal, wenn einem klar wird, dass die Stars der Mannschaft die Einzigen sind, die einen Namen und steigerbare Charakterwerte besitzen. In Zeiten, in denen Profisportler verehrt werden wie einst griechische Gottheiten, ist das fast schon deprimierend, als tragendes Spielelement ist es aber sehr motivierend. Bis ich meinen Kader voll hatte, von Leuten, die immerhin einen Stern in der Bewertung trugen, vergingen zwei Saisons. Zwei Spielzeiten, in denen ich mich zu einem guten Teil auf Anonyme verlassen musste, um die die Bankdrücker der D-Jugend vom FC-Huchting wohl noch Kreise laufen würden. Rückwärts, mit dem Ball am Fuß! Und das ist keine Übertreibung.
Irgendwann gerät man so in Zugzwang, Geld zu verdienen, um seine Leute auch zu halten, dass Retro Goal bei mir zumindest den Blutdruck eines durchschnittlichen Champions-League-Managers akkurat simulierte. Weitere Lektionen, die Retro Goal einem beibringt, stecken darin, dass sich weder Schiedsrichterdiskussionen noch mit Schwalben lohnen. Die sind mit das Blödeste am Sport und finden hier deshalb auch nicht statt. Auf dem Rasen gibt es nicht - nur die Highlights eurer eigenen Truppe. Mit der Zeit empfand ich auch die vielen, vielen Gegentore, die gerne zum unpassendsten Zeitpunkt kamen, und die einem in ihrer blanken Textform umso mehr wie ein gestreckter Mittelfinger aus dem Nichts vorkommen, weniger als Ärgernis. Auch ihn ihnen steckt eine Menge Wahrheit: Wenn man die Tore nicht selbst schießt, tun es eben die anderen, egal, wie sehr ihr euch auch anstrengt.
Also: Ich habe mit Retro Goal so viel Spaß mit Fußball wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Das hat zugegebenermaßen weniger mit Mechaniken zu tun, als mit der Einstellung dieses kleinen Sonderlings. Aber wenn wir im Fußball eines gelernt haben, dann, dass es vor allem darauf ankommt.
Retro Goal+ ist in Apple Arcade enthalten, das ihr für 4,99 Euro im Monat abonnieren könnt. Weitere Versionen gibt es als Retro Goal auf der Switch und auf Android.