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What Remains of Edith Finch - Horror, wo man ihn nicht erwartet

Der Unfinished-Swan-Nachfolger schlägt eine ganz andere Richtung ein.

Da steht es nun, mitten im Wald. Das Anwesen der Finches. Unten herum ein typisches amerikanisches Einfamilienhaus, holzvertäfelt mit Veranda und Garage. Außer des Gedanken, dass es hier ebenso einsam wie schön sein dürfte, wäre eigentlich nicht viel Besonderes daran. Wäre da nicht der groteske Turm aus Anbauten, die sich windschief an der rechten Seite des Hauses aufstapeln wie alte Schuhkartons.

Das Spiel, das zur Erkundung dieses verlassenen alten Hauses dazugehört, ist eine ebenso schräge, aber fesselnde Angelegenheit. Vermutet man Anfangs das, was manche Leute etwas abschätzig Walking Simulator nennen - tonal lässt gerade Everybody's Gone to the Rapture grüßen -, entwickelt Edith Finch durch seine fantastische und oft unheimliche Prämisse aber tatsächlich den kräftigen Sog eines guten Romans. Klar, das wird wohl das Ziel der meisten Titel dieser Gattung sein. Allerdings stützt sich Giant Sparrow (Unfinished Swan) nicht so sehr auf das geschriebene oder gesprochene Wort wie andere, sondern lässt vor allem starke Bilder sprechen.

Mit offiziellen Bildern spart Giant Sparrow aktuell noch. Weiter unten findet ihr einen repräsentativen Trailer. Aber auch die Artworks hier treffen die Stimmung des Spiels ziemlich gut.

Sobald man begreift, wie der groteske Turm auf dem Dach der wie ausgestorbenen Finch-Residenz zustande kam, hat einen dieses Spiel am Kragen. Und es lässt erst wieder los, wenn einen der PR-Mann daran erinnert, dass auf diesem Event noch ein gutes Dutzend weitere Magazinleute spielen wollen. Im Inneren des Hauses sind die meisten Schlafzimmer mit einem kunstvoll verzierten Stahlriegel versperrt. Darauf graviert: der Name des Bewohners, Geburts- und Todestag. Die Finches haben die seltsame Familientradition, die Zimmer ihrer Verstorbenen so zu versiegeln, wie ihre Bewohner sie hinterließen. Und über die Jahrhunderte gingen ihnen irgendwann schlicht die Zimmer aus.

Edith - das seid ihr. Die Letzte der Finches, die in diesem Haus plötzlich einige Türen geöffnet vorfindet und wohl nicht mehr alleine ist. Ein Zimmer nach dem anderen erkundet ihr und jedes ist ein kleines Kunstwerk für sich. Walter muss noch ein Kind gewesen sein, als er sein Ende fand. Seine Tür ist die erste, die mit einem Mal offen steht. Blaue Tapeten, Unterwasserromantik, Wale und Fische wachten über den Schlaf eines offenkundig verträumten, kreativen Jungen. Durch eine geheime Tür in der Wand entdeckt man ein Versteck, das ins Zimmer Walters' Schwester Molly führt. "Sie ist die erste, die in diesem Haus starb“, gibt uns Edith zu verstehen, als sie durch den engen Verschlag ins Zimmer eines etwa zehnjährigen Mädchens steigt und auf dem Fensterbrett das Tagebuch aufschlägt.

Jede Szene platzt vor Details nur so aus allen Nähten.

Von hier an sehen wir durch Mollys Augen eine Art immer finster werdenden Fiebertraum - wenn es denn ein Traum war. Sie verwandelt sich erst in eine Katze, springt hungrig aus dem Fenster und über die Äste eines Baumes einem Vogel hinterher. Als sie stürzt, verwandelt sie sich in eine Eule und stürzt sich mit ausgestreckten Klauen auf Kaninchen. Nicht imstande, ihren Hunger zu stillen, ist sie wenige Augenblicke ein Haifisch im Ozean, der einer Robbe nach und nach die Flossen abreißt, um sie schließlich zu verspeisen. Was dann passiert, will ich nicht verraten. Nur, dass es noch obskurer und seltsamer wird.

Unter dieser Struktur geht es von Raum zu Raum, um zu ergründen, wie all diese Leute ihr Ende fanden und wer hier insgeheim noch in eurer Vergangenheit rumstochert. Es ist fast episodenartig, mit Ediths eigener Angst, was wohl von ihr bleiben wird, als Bindemittel zu den Schicksalen ihrer Vorfahren. Spielerisch ist es erwartbar seicht. Laufen, die Umgebung untersuchen und die richtigen Objekte in die Hand nehmen, ist alles, was es für einige der stimmungsvollsten und überraschendsten Szenenwechsel braucht.

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Mollys Abschnitt stellt ziemlich unmissverständlich klar, dass das Spiel kaum Grenzen kennt, wenn es um Lynch-eske Hirnverbieger geht. Der Ton wechselt mühelos und schleichend zwischen wundersam-beschaulich und dem überwältigen Gefühl, dass hier etwas gewaltig schiefläuft. Die detailverliebte Umgebung verrät dermaßen viel über ihre Bewohner, dass man keinen Raum einfach so durchschreitet, um zum nächsten Bisschen Handlung zu kommen. Man verliert sich regelrecht darin, sich ein Bild von den Menschen zu machen, die hier einst lebten. Und wie kann dieses Leben überhaupt ausgesehen haben, in einem Haus, das sich langsam, aber sicher in einen Friedhof verwandelt?

Wenn ich aus meiner halben Stunde mit Edith Finch eines mitnahm, dann dass der Begriff "Walking Simulator" auf viele Spiele zutreffen mag, auf dieses aber nicht. Wo andere Titel vergleichbar geringen Spielgehalts genauso gut - oder besser - in Schriftform genießbar wären, nutzt Giant Sparrow eine ganze Menge der visuellen Videospielmagie, wegen der wir dieses Medium so lieben. Bewahren die Entwickler das über die komplette Länge des Titels, Edith Finch könnte einer der ersten wirklich großen interaktiven Romane werden.

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