Wie Infinite Crisis mein erstes MOBA wurde
… und ich die Fresse poliert bekam.
Guten Tag, Turbine! Ich lese hier, dass Sie sich mit diversen MMOs einen Namen gemacht haben und nun mit einem MOBA groß rauskommen wollen? Na, herzlichen Glückwunsch! League of Legends oder DOTA ihre treuen Fans abspenstig zu machen, dürfte praktisch unmöglich sein. Ach? Sie wollen ganz neue Spieler für das Genre begeistern? Da haben Sie sich aber was vorgenommen. Als würde man Fahrschüler in Formel-1-Boliden setzen und beim Großen Preis von Monaco unters Fahrerfeld mischen. Jetzt müssen Sie schon ein Ass aus dem Ärmel zücken, wenn sie den Frischlingen über die Einstiegshürde helfen wollen. Irgendeine zugkräftige Marke vielleicht? Ihr Mutterkonzern Time Warner hat da was in Petto? DC Comics?! Toll! Dann lassen Sie mal hören.
So betrachtet, ist die Idee hinter Infinite Crisis ein brillianter Marketing-Schachzug. Jeder echte Comicbuchfan kennt natürlich die diversen Crisis-Reihen, im Zuge derer DC Comics ihr Universum mehrfach umfrisiert haben. Traditionell werden alte Helden und Schurken während solcher 'Events' aus der Mottenkiste gekramt, bestehende Recken überarbeiten die Autoren oder verfrachten die Helden gleich ins Grab. Fast immer wagt man Experimente in parallelen Dimensionen, streut hier und da einen Spin-off zwischen. Vieles funktioniert. Manches nicht.
Superman verpassten die Zeichner zum Beispiel eine neue Frisur, dunkle Hautfarbe oder einen Stehkragen und strichen seine roten Buchsen. Manchmal wird der Mann aus Stahl sogar zum Nazi oder Kommunisten erklärt. Batman bekommt regelmäßig frische Sidekicks spendiert, zeitreist von der Steinzeit bis zur Apokalypse oder wird zum dunklen Steampunk-Ritter von Gaslight-Gotham. Wonder Woman haben die Autoren erst kürzlich zur Halb- respektive Vollgöttin erklärt. Die Justice League gibt es längst in Mecha-, Retro- oder Tiergestalt. Reboots machen sich sowieso immer gut. Wie oft sich Clark und Bruce mittlerweile "zum ersten Mal" getroffen haben, passt auf keine Datingseite. Egal. Hauptsache schön starker Tobak für die Fans, die sich hinterher Wochen und Monate über die Auswirkungen und Abspaltungen den Mund fusselig quasseln - ich gehöre dazu.
Warum also nicht die motivierte Anhängerschaft nutzen und die zahllosen Variationen ihrer Helden und Bösewichte in ein MOBA packen? Passt doch wie Podex auf Eimer, oder? Allein - das Problem mit der steilen Lernkurve bleibt. MOBAs sind eine Wissenschaft für sich. Das wissen natürlich auch deren Entwickler und Publisher. Darum luden Warner und Turbine uns Journalisten unlängst zu einer Schnupperveranstaltung nach London ein, um etwaige Kostverächter fürs wuselige Genre zu begeistern. Quasi ein Crashkurs für MOBA-Willige. Mir kam das gerade recht - ich hab mich bislang eher um LoL und DOTA gedrückt. Als Comicbuch-Geek war ich natürlich neugierig. Das Kalkül der Macher, bei mir fällt es auf fruchtbaren Boden.
Dein Aquaman hat meinen Green Arrow versenkt!
Der Sturz ins kalte Wasser - er hätte nicht frostiger sein können: Frisch eingetroffen, werden wir in mehrere Teams aufgeteilt und bekommen einen Coach zur Seite gestellt. Im Hintergrund kommentieren zwei Caster das Geschehen. Sogar eine Filmcrew huscht zwischen den Reihen herum. Hoffentlich landet das hier nicht auf Twitch. Mit akuten Sorgenfalten starte ich mein allererstes Match. Das übervolle Roster mit 27 (gefühlt 250) Kämpfervariationen öffnet sich. Die furchtbare Qual der Wahl. Ein paar Entwickler haben sich unter die Gruppen gemischt und bereits ihre Favoriten herausgepickt. Man wartet auf uns Nachzügler, die sich noch nicht für ihren Heroen entscheiden konnten.
Joker? Cyborg? Green Lantern? Batman! Nein, stinken alle verdächtig nach Fanboy. Shazam? Nee. Zatanna? Auch nicht. Überfordert klicke ich auf Green Arrow. Solide Fernkampfklasse, sollte man meinen. Ich möchte mich aus allem raushalten und aus der Distanz Pfeile verschießen. Wird nur leider nichts draus. Komme ich gleich zu.
Das Match beginnt. Die Helden stehen in der heimischen Basis, die Optik erinnert an eine Mischung aus allem, was Blizzard in den letzten 12 Jahren veröffentlicht hat. Die Perspektive ist Vogel-3D-isometrirgendwas. Knallbunt. Sparsam texturiert. Passt aber prima zum Comicbuch-Szenario. Das Interface erinnert an eine Mischung aus MMO und RTS. Soweit so vertraut.
Der Coach zeigt uns, wie wir aus zirka 6897 Gegenständen (gefühlt 6897) die richtigen Heiltränke und Buff-Ausrüstung auswählen. Dann justiert er kurz unsere Skills und erklärt, was wir wie am besten zum Einsatz bringen. Jetzt realisiere ich, dass "Fernkämpfer" sich in diesem Spiel übersetzen lässt mit "zwei Zentimeter Abstand, die dein Kontrahent im Bruchteil einer Millisekunde überwindet, um dir die Fresse zu polieren". Pfeile aus dem Hinterhalt? Nix da. Doomsday prügelt mir schneller die Rübe zu Klump, als ich klicken kann. Die Partie läuft erst eine halbe Minute. Super.
Der Coach beruhigt meine skeptisch zusammengezogenen Brauen. Alles halb so wild. Hier: Dieser Skill gewährt einen Schutzschild. Und wenn ich diesen Angriffsmodus aktiviere, laufe ich schneller, kann eine Rolle vollführen und den Gegner verlangsamen. Ach ja, ich soll jetzt über die obere 'Lane' vorrücken. Was das ist (Subtext: komische Frage)? Naja, das Spielfeld wird in drei 'Lanes' unterteilt. Oben, Mitte, unten. Das sind die Routen, die man auf dem Weg zur feindlichen Basis wählen kann. Unterwegs muss man die Knotenpunkte zer... Aquaman! Aufpassen!
In dieser Sekunde springt der König von Atlantis aus einem violetten Tarnfeld, das ich erst jetzt als solches erkenne, verbrutzelt mich mit Energiebolzen aus seinem Dreizack und pulverisiert nonchalant den Flash, der gerade vor dem (immer noch) wütenden Doomsday davonrennt. Kann es sein, dass Aquaman ein besserer Fernkämpfer ist als Green Arrow? Die Schussdistanz sei gleich, erklärt der Coach. Aber dieser Spieler weiß die Attacken besser zu nutzen. Hat den Char auch schon hochgelevelt. Ach, richtig - das ist einer der Entwickler. Kein Wunder. Da soll ich mir keine Gedanken machen. Ja, ein bisschen unfair, gell?
Doomsday ist überall und ich horte Eingabegeräte
Flash und ich konzentrieren uns auf die obere 'Lane' (hier nicht jugendfreie Zote über Superman und Lois einfügen). So langsam wird mir klar, wie so ein MOBA funktioniert. Wichtige Lektion: zum ersten feindlichen Knotenpunkt marschieren, außerhalb der Reichweite des dortigen Lasergeschützes bleiben und die eigenen Kampfroboter machen lassen. Die laufen in konstanten Wellen von der Basis aus die Lanes entlang und lenken die KI-Gegner oder Geschütze ab, während man selbige mit Projektilen eindeckt. Blöd, dass jetzt eine Poison-Ivy auf uns losgeht und mit ihren Schlingpflanzen fesselt. Darauf hat Doomsday offenbar gewartet. Wer sonst? Der Typ hat es echt auf mich abgesehen. Ich beziehe die erwartbaren Prügel, erwache in der Basis. Der Coach kommt kurz vorbei, hilft mir, ein paar Skills und Gegenstände aufzurüsten, und gibt die Losung aus, wir sollen uns weiter auf die obere Lane konzentrieren. Der Knotenpunkt sei gleich so weit. Ich schöpfe die leise Hoffnung, wenigstens ein bisschen etwas konstruktives zur Partie beizutragen.
Ich rücke in Richtung der Feindbasis vor. Doomsday. Tod. Respawn. WTF?!
Ich hab aus meinen Fehlversuchen gelernt, verstecke mich in einem der Tarnfelder. Als Aquaman vorbeischlenzt, verpasse ich ihm einen Explosivpfeil. Ha! Nimm dies, Flossenfuzzi! Jetzt rolle ich flugs zu unserem Knotenpunkt, den Atlanter an den Hacken. Aquaman wagt sich zu weit vor, wird vom Geschützturm meines Teams erfasst und zu Fischmehl verarbeitet. Na also! Ich rücke in Richtung der Feindbasis vor. Doomsday. Tod. Respawn. WTF?! Coach? Kann ich da was gegen tun? Nee, das ist auch ein Entwickler, sorry. Keine Ahnung, warum die alle im anderen Team mitspielen. Äh. Vielleicht willst du nochmal die Skills hochleveln?
Um es abzukürzen: Dreimal dürft ihr raten, wer die Partie gewinnt. Ich bin von Green Arrow enttäuscht. Keine Ahnung, wie diese grüne Lusche eine eigene Fernsehserie bekommen konnte. Aquaman mit seinem Dreizack war subjektiv überlegen. Doomsday sowieso. Wahrscheinlich kompensiert da ein Designer was. Wie auch immer. In der nächsten Runde wähle ich den Joker. Fanboy. Na und? Der Verbrecherclown kann Klappergebisse als Fußfallen verteilen, einen Dummy aufstellen, um Feinde abzulenken, und Widersacher übel vergiften. Ein paar fiese Überraschungen für die Gegenseite. Kurze Pause, dann beginnt das zweite Match. Eine Chance habe ich nicht, doch ich nutze sie. Mein erster richtiger Kill, mein erster zerstörter Knoten. Einmal erwähnen mich sogar die Kommentatoren. Keine Ahnung, ob sie mich loben oder tadeln. Das englisch geschnatterte MOBA-Fachjargon geht über meinen Horizont. Dann ist das Event auch schon vorbei. Irgendwie lustig war es, aber auch ein echter Knacks für mein Ego.
Habe ich Blut geleckt? Ein bisschen. Für die offene Beta von Infinite Crisis habe ich mich jedenfalls angemeldet und den Client vertrauensvoll auf meiner Platte verstaut. Kann Turbines erstes MOBA den Platzhirschen die Butter vom Brot nehmen? Das bezweifle ich. Die Situation erinnert an Turbines Lord of the Rings Online, das sich nur dank seiner Marke einigermaßen gegen World of Warcraft behaupten kann. Das große Pfund, mit dem Infinite Crisis wuchert, sind seine DC-Helden. Das wird für eine stabile Nische reichen. Im Bereich E-Sports wäre sowieso noch Platz für den Titel. Superhelden trifft man hier leider viel zu selten.
Und was ist mit mir? Werde ich jetzt zum MOBA-Profi? Da müsste schon ein Wunder biblischen Ausmaßes passieren. Mir fehlt der nötige Durchblick im hektischen Gewusel, meine Reflexe liegen subjektiv auf dem Niveau einer Weinbergschnecke und ich hab derzeit einfach nicht den Nerv (oder die verschreibungspflichtigen Medikamente), um mich richtig in die Materie reinzufuchsen. Aber wer weiß? Eines Tages packt mich der Virus vielleicht doch. Sobald Infinite Crisis gegen Ende des Jahres die offene Betaphase verlässt, werde ich für den Test viel Zeit einplanen (müssen). Vorher lege ich noch ein paar Mäuse, Tastaturen und Monitore auf Halde. Deren Verschleiß durch spontane Wutanfälle könnte nämlich sprunghaft ansteigen.
Wenn ich mir ein MOBA aussuchen müsste, hätte Infinite Crisis trotzdem gute Chancen auf das Siegertreppchen. Einfach weil ich die Figuren kenne und mich am Fantasy-Gedöns der Konkurrenz sattgesehen habe. Andererseits dräut da aktuell auch Blizzards Heroes of the Storm am Horizont. Diablo, WarCraft, StarCraft. Drei meiner liebsten Marken in einem Paket vereint. Das klingt schon verführerisch. Aber Superhelden sind Superhelden. Verdammt! Diese Marketingprofis bringen mich echt noch dazu, MOBAs zu mögen!