Winter Ember - Test: "Immersive Stealth-Action" mit Thief als Vorbild
Die Idee ist interessant – der Umsetzung fehlt es an wichtigen Bausteinen des cleveren Schleichens.
Gut geklaut...
Kommt euch das bekannt vor? Ein Langfinger kehrt in seinen hier Anargal genannten Heimatort zurück, aus der ihn ein Unglück einst vertrieben hatte. Graue Gassen bestimmen das Bild der Stadt, durch die er stets im Dunkeln streift. Fackeln und Laternen werfen nur wenig Licht auf den Asphalt – in den Häusern sind es meist Kerzen, die er schnell löscht, um nicht gesehen zu werden. Was er überhaupt in fremden Wohnungen treibt? In Truhen und Regalen lagern Wertgegenstände, die auf dem Schwarzmarkt stattliche Summen einbringen. Versteckte Schlüssel und das geschickte Hantieren mit dem Dietrich öffnen ihm die Türen zu besonders gewinnträchtigem Diebesgut.
Arthur, so der Namen des Heimkehrers, kann sich frei in Anargal bewegen und kleine Missionen erledigen, die mal mit dem Entwenden gesuchter Gegenstände, mal mit dem Ausschalten vermeintlicher Bösewichte zu tun haben. Gleichzeitig wird er in einen großen Strudel düsterer Ereignisse gezogen, durch die auch ein Hauch des Übernatürlichen weht. Ganz recht: Das hier ist eine Art Thief, dessen größter Unterschied zum Vorbild (also dem acht Jahre alten Reboot der namhaften Serie) auf den ersten Blick nur die andere Perspektive ist.
Immerhin schaut man in Winter Ember stets von oben aufs Geschehen, wobei man die Kamera lediglich zur Seite dreht, aber weder neigt noch näher heran oder weiter hinaus fährt – dazu schreibe ich später etwas. Und zunächst einmal bin ich wirklich froh darüber, dass es Winter Ember gibt, denn ich versinke unheimlich gerne in Spielen vom Schlag eines Thief, Dishonored oder Deus Ex. Und Winter Ember macht auch vieles richtig, das in diesem Genre eine Rolle spielt.
So muss man Wachen nicht bekämpfen, sondern kann ihnen leise und ungesehen aus dem Weg gehen. Man hat oft die Wahl, ob man ein Gebäude durch den Vordereingang betritt, ein Fenster im ersten Stock findet oder eine Leiter zum Dach ausmacht. Mit verschiedenen Werkzeugen manipuliert man dabei die Umgebung und befestigt über Pfeile mit Greifhaken zum Beispiel Seile an hohen Balken, während Rauch die Sicht behindert, Feuerpfeile vereiste Wege freimachen und Pfützen durch Eisgeschosse zu spiegelglatten Fallen werden. Der Name des Spiels kommt ja nicht von ungefähr.
Entweder kauft Arthur diese Waffen oder er stellt sie selbst her, falls er über die benötigten Blaupausen und Materialien verfügt. Über eine kleine Charakterentwicklung verbessert man außerdem ein paar seiner Fähigkeiten, sodass er weniger schnell entdeckt wird oder Wachen schneller ausschaltet. Auf Wallhacks und ähnliche Späße verzichtet das Spiel dabei zum Glück und bringt so auf gelungene Art ein Rollenspiel Light mit Inventar-Verwaltung und Stealth-Action zusammen.
Auch die Geschichte nimmt interessante Wendungen, zumal es mir einige der kurzen Nebenmissionen angetan haben. Dort ist mitunter nämlich längst nicht alles, wie es scheint und man muss einige knifflige Entscheidungen treffen. Umso bedauerlicher ist es, dass das alles über recht platte Dialoge erzählt wird. Die wenigen von den Anwohnern der Stadt aufgesagten Texte wiederholen sich zudem alle paar Meter, was dem Szenario einen Teil seiner sonst überzeugenden Atmosphäre raubt. Dass im Grunde jede Straße, jedes Haus und jeder Hof gleich aussehen und die meisten Gassen aus schnurgeraden Wegen bestehen, tut sein Übriges.
Holz unter den Füßen, Brett vorm Kopf
Die größten Schwachpunkte greifen hingegen den Kern dessen an, was ein Abenteuer dieser Art ausmacht: das überlegte Vorgehen und das clevere Überlisten der KI. Diese Nische der Videospiele gehört für mich nämlich deshalb zum Besten der interaktiven Unterhaltung, weil es ungemein faszinierend ist, auf vielfältige Art die Umgebung zu manipulieren und zu beobachten, was dabei herauskommt. Der Clou ist es dann, wenn Gegner auf jeweils andere Art auf unterschiedliches Tun reagieren, sodass sich immer wieder Situationen mit leicht veränderten Vorzeichen entwickeln. Dazu braucht es ein gutes Leveldesign und relativ komplexe Systeme der Interaktion, wie The Last of Us 2 zuletzt meisterhaft demonstriert hat.
Und wie es Winter Ember nicht ganz hinbekommt. Denn tatsächlich ist der Handlungsspielraum hier viel zu eingeschränkt, als dass dieses interessante Katz-und-Mausspiel entstehen könnte. Wachen suchen zwar nach Arthur, wenn sie ihn in der Entfernung sehen oder hören. Mit geworfenen Flaschen kann man sie außerdem ablenken und zumindest nehmen sie Tote wahr, falls man die nicht in eine dunkle Ecke geschleppt hat. Sie erkennen aber weder geöffnete Türen noch gelöschte Kerzen oder andere Veränderungen. Alles in allem sind ihre Routinen ausgesprochen überschaubar.
Wird Arthur entdeckt, bleibt ihm daher nur das Kämpfen oder ein gefühlt kilometerlanges Wegrennen, weil er die Umgebung nicht nutzen kann, um wieder zu verschwinden. Mit einer Ausnahme: Springt er auf eine hüfthohe Kiste und harrt dort eine Weile lang aus, werden ihm seine Verfolger nicht folgen und nach einer Weile sogar abdrehen, da sie doch glatt seine Spur verlieren, während er direkt vor ihnen steht. Merkt euch einfach: Hat Arthur Holz unter den Füßen, haben seine Gegner ein Brett vorm Kopp.
Überhaupt Kisten, die an vielen Stellen als Stufe dienen, um Fenster im ersten Stock zu erreichen oder über Zäune zu klettern: Diesen Zweck erfüllen sie lehrbuchhaft. Wenn man allerdings über kein einziges Hindernis klettern darf, das dem Alter Ego gerade mal zum Bauchnabel reicht, aber überall dort hinüber kommt, wo eine exakt gleich hohe Kiste davor steht, geht eine gehörige Portion der angepriesenen Immersion flöten. Das Gleiche passiert bei Personen, denen Arthur in ihrem eigenen Wohnzimmer den Familienschmuck vor der Nase wegklaut, ohne dass sie wenigstens mal fragen, was das eigentlich soll – in einem Spiel, das sich im großen Stil um Diebstahl dreht.
Wäre wenigstens das Kämpfen unterhaltsam, aber sehr schnell hatte ich auch daran keinen Spaß. Sämtliche Feinde derselben Art spulen ja stets eine exakt gleiche Wiederholung von Aktionen ab, was das Abwehren und Kontern ihrer Angriffe zur ermüdenden Routine macht. Zumal ich ungern wertvolle Pfeile verschwende, um sie auf Distanz zu halten. Schon deshalb geht man stärkeren Widersachern lieber aus dem Weg oder meuchelt sie unentdeckt von hinten – gut, dass das immerhin den Wert des Schleichens erhöht.
Zu allem Überfluss gelingt Sky Machine aber nicht einmal die Steuerung so richtig, denn mitunter werden Aktionen angezeigt, die man in diesem Moment noch gar nicht ausführen kann. Vor allem aber funktioniert das wichtige Deckungssystem aus mehreren Gründen dermaßen schlecht, dass ich fast nie davon Gebrauch mache. So kann man nur dann in Deckung gehen, wenn man sich noch nicht an der jeweiligen Wand oder der entsprechenden Kiste befindet. Man müsste dann erst einen Schritt zurückgehen und Arthur ein wenig hin und her drehen, bis die Funktion endlich verfügbar ist – falls das überhaupt der Fall ist. Schließlich stehen gar nicht alle plausiblen Objekte als Deckung zur Verfügung, was den Umgang mit diesem System zusätzlich erschwert.
Und nicht zuletzt leidet sogar die Übersicht, da man die Kamera wie erwähnt nicht kippen darf, um weit geradeaus zu schauen. Dadurch sieht man Wachen, auf die Arthur zu läuft, oft spät, obwohl vorausschauendes Handeln im Mittelpunkt stehen sollte. Damit hängt auch zusammen, dass alles, was Arthur gerade nicht sehen kann, auch nicht dargestellt wird. Das ist grundsätzlich klasse! Doch wenn man das verdeckte Sichtfeld nicht von der ohnehin sehr dunklen Umgebung unterscheiden kann, dann fehlt einfach die nötige Kontrolle über das vorsichtige Vorantasten.
Winter Ember – Test-Fazit
Unterm Strich war Winter Ember damit ein enttäuschendes Erlebnis. Das liegt sicherlich auch meiner Erwartung an ein Abenteuer, das sich selbst als "immersive Stealth-Action" bezeichnet. Denn vieles fühlt sich eben nicht immersiv an, wenn die Interaktionsmöglichkeiten dermaßen eingeschränkt sind und sowohl die Kulissen als auch die spielerischen Systeme nur ein monotones, stellenweise sogar sehr hakeliges Vorankommen ermöglichen. Nun kann man damit trotzdem seinen Spaß haben, denn im Kleinen ist das Erkunden der stimmungsvollen offenen Stadt durchaus unterhaltsam – und sei es nur, um einige überraschende Nebenmissionen zu erledigen oder dem interessanten roten Faden zu folgen. Man darf nur nicht daran denken, was Stealth-Action theoretisch kann und in vielen der Vorbilder schon bewiesen hat.