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Warren Spector: "Wo ist der Roger Ebert der Spiele?" - Findet den Spielberg und er wird kommen! - Kommentar

Manchmal muss man zuerst die Wüste verlassen, um den Propheten zu finden.

Zuerst war ich ein wenig an diese Debatte erinnert, zumal ich mich erst vor ein paar Tagen mit einem schwer der cineastischen Kunst zugewandten Freund ausführlich darüber unterhielt. Aber nachdem ich Warren Spectors Kolumne noch einmal genauer las, muss ich nun sagen, dass der Mann zwar Recht hat, aber die falsche Frage stellt. Spector will wissen "wo der Roger Ebert des Spielejournalismus ist". Die Frage muss heißen: Wo sind die Steven Spielbergs, James Camerons und Christopher Nolans der Spieleindustrie?

Um erst einmal kurz die These wiederzugeben, die ihr hier ausführlich auf Gamesindustry.biznachlesen könnt: Es gibt Review-Journalismus, akademische Analysen zu Spielen, über das Kreieren von Spielen und auch jede Menge Fachjournalismus dazwischen. Aber in den Mainstream-Medien der großen Tageszeitungen und dem TV sind Spiele praktisch nicht existent. Die Zahl an berühmten Filmkritikern ist groß und zwischen ihnen findet ein lebendiger Austausch auf allen gedanklichen Ebenen über Filme aller Art statt. Das eben nicht nur in Fachmagazinen, sondern auf der großen Bühne der in Sachen Auflagen und Klick-Zahlen stärksten Magazine der Welt. Warum findet das nicht mit Spielen statt, die stattdessen unter Ausschluss der breiten Masse gespielt und besprochen werden?

Der große Roger Ebert, 1970. Ein Leben lang mit das Beste, was dem Film passieren konnte.

Ganz einfach: Spiele sind es aktuell nicht wert, von einer breiten Masse als allgemeingültiges Medium nicht nur für simple Unterhaltung, sondern auch für einen seriösen Austausch wahrgenommen zu werden. Sie sind gleichzeitig zu gut und zu schlecht dafür. Zu gut in dem Sinne, dass sie über die Jahrzehnte hinweg zu komplexen Wunderwerken wurden, in deren wirkliche Funktionsweise sich ein Nicht-Spieler erst mal hineindenken muss. Auf einer Seite wie Eurogamer kann ich jederzeit davon ausgehen, dass jeder weiß, was mit "Stealth", "Shooter", "Jump 'n' Run" und so weiter gemeint ist. Wir bewegen uns in unserer eigenen Sprache, die sehr komplexe Mechaniken leicht handhabbar verschlagwortet. Filme tun dies nicht wirklich, weil sie es nicht müssen. Ihnen reicht eine erste Genre-Einteilung. "Horror", "Romantische Komödie" oder das etwas vage "Action", damit kann jeder etwas anfangen. Sicher kann man einen Film hochanalytisch zerlegen und in ihm steckt mitunter nicht weniger Komplexität, aber es ist eine andere Art. Manches davon ist sogar für den Laien selbst ohne Kenntnisse der Materie nachvollziehbar, aber wer noch nie ein Stealth-Spiel selbst gespielt hat, wird sich schwertun, einer Debatte um die Details dieser Mechaniken zu folgen. Egal, ob dies hier oder in der New York Times geschieht.

Was mich zu meiner eben sehr hart formulierten Aussage zurückbringt: Wenn ich sage, dass die meisten Spiele es nicht wert sind, dann, weil sie es bisher nur in absoluten Ausnahmefällen geschafft haben, den Mainstream inhaltlich ansprechen zu können. Spiele werden derzeit für eine winzige spezifische und fachlich darin orientierte Zielgruppe geschrieben. Um nicht zu sagen für Gaming-Nerds. Call of Duty: Black Ops 2 hat sich 10 Millionen mal verkauft? 500 Millionen Dollar eingenommen? Damit würde es das Spiel nicht mal in die Top 100 der Einnahmen der erfolgreichsten Kinostarts schaffen, von deren weiteren Einnahmen aus DVD-Verkäufen und Vermarktungsrechten mal ganz zu schweigen. Dadurch das das Spiel auch nicht 15 Euro für Kino oder DVD kostet, sondern 60 lässt sich die Zahl noch nicht einmal direkt vergleichen. Wäre dieses vielleicht erfolgreichste Spiel ein Kinofilm, würde man von einem moderaten Erfolg sprechen und danach nie wieder darüber.

Das Problem ist jedoch nicht, dass es nicht so viele Leute gespielt haben, sondern dass es dafür einen guten Grund gab. Das hier ist kein Saurier-Gemetzel für die ganze Familie (Spielberg), auch keine Schiffskatastrophe oder die Schlümpfe im Weltraum (Cameron) und nicht mal die Schlacht eines Mannes gegen einen Clown (Nolan). Das hier ist Michael Bay an seinem schlimmsten Tag. Ich mag Michael Bay an seinem schlimmsten Tag, es ist Hirn aus, Testosteron an und Popcorn rein. Für zwei Stunden kann das funktionieren. Aber das sind nicht die Filme, über die Ebert und seine Kollegen ihre Debatten führen, es sind nicht die Filme, die über den ersten Verriss hinausgehen, es sind die Filme, an die man schon eine Stunde nach dem Kino keine Erinnerungen mehr hat. Fragt mich also bloß nicht, worum es in Bad Boys 2 oder Black Ops 2 ging, ich weiß es ehrlich nicht mehr. Gäbe es nur solche Filme, würde es die Kultur der Filmkritiker im Mainstream-Medium nicht geben. Leider gibt es (fast) nur solche Spiele.

Ken Levine. Wird er der Spielberg des Spiele-Mediums?

Filme haben zum einen den Vorteil in der breiten Masse, dass sie allgemein und preiswert bis sogar umsonst (GEZ oder wie auch immer es jetzt heißt zählt nicht) verfügbar sind. Ein Film dauert etwa zwei Stunden. Man muss erst einmal nichts tun, außer zu sitzen und zuzugucken. Das macht das Medium sehr viel zugänglicher. Spiele sind teuer und fordernd. Selbst ein ach so simples Call of Duty erfordert jede Minute eurer Konzentration und Geschicklichkeit. Seine Geschichte mag noch so platt sein, die Anforderungen an die erforderliche Tätigkeit des Medienkonsumenten übersteigt jeden Film. Ob der diesen dann auch versteht, ist immer noch eine ganz andere Frage. Aber er hat ihn zumindest gesehen, allein dadurch, dass er in der Lage war auf seinem Hintern zu bleiben und die Augen aufzuhalten. Filme oder auch TV-Serien werden daher, auf die breite Masse gesehen, immer das präferierte Medium sein. Viele Leute und auch viele von uns Gamern kommen abends nach Hause und wollen vielleicht nicht so weit abschalten, dass das Gehirn in den Leerlauf einer Dauerwerbesendung geht, aber doch so weit, dass sie sich erst mal nicht rühren müssen und einfach aufmerksam konsumieren, was über den Screen flimmert.

Zum anderen genießen Filme den Vorteil einer menschlichen Komponente, wie auch Dan Whitehead als Kommentar unter dem Kommentar von Spector erwähnt. Filme und Spiele drehen sich beide um Emotionalität. Ein Spiel geht aber in eine Art komplexen Austausch mit dem Spielenden, indem er durch das Spiel Freude, Ärger, Spaß und alles andere erzeugt, was man beim Spielen halt so fühlt. Es entsteht durch eure aktiven Reaktionen auf die Aktionen des Spiels. Im Film funktioniert es andersherum. Der Film ist insoweit passiv, als dass er definiert ist und immer gleich ablaufen wird. Ihr seid passiv, da ihr keinen Einfluss auf den Film habt. Die Emotionen, die der Film erzeugt, entstehen also anders, nämlich durch die Handlung, die Handelnden und eure Wahrnehmung dieser. Da diese Handelnden meist Menschen oder sehr menschliche Zeichentrickfiguren (Disney, Dreamworks, Ghibli) sind, fühlen wir uns eher mit ihnen verbunden als mit dem aktiv gesteuerten Avatar, der eine Projektionsfläche für uns selbst und unsere eigene Emotionalität ist. Im Falle des Films werden Emotionen wie Freude, Trauer, Aufregung oder Zorn auf uns projiziert, insoweit sind die Rollen vertauscht. Sich darin zu verlieren und mit dem Film "mitzufiebern" ist weit einfacher, wir sind es gewohnt, die Welt so zu sehen, selbst wenn uns normalerweise in unserer Anwesenheit eine aktive Rolle darin zuteilwird. Das Erleben der Emotionalität über einen von uns gesteuerten Proxy, der Spielfigur, ist weit schwieriger und weniger direkt.

Oder wird es doch David Cage?

Der zweite menschliche Faktor ist, dass wir uns sehr viel leichter für Stars begeistern können. Dan Whitehead nennt Brad Pitt, es könnte auch jeder andere halbwegs bekannte Schauspieler sein. Sie sind echte Menschen und Menschen interessieren sich für andere Menschen. Sie interessieren sich seltener für eine Kunstfigur, die im Rechner entstand. Die vielleicht aktuell besten künstlichen Schauspieler entstehen bei Naughty Dog (Uncharted, Last of Us) und Quantic Dream (Heavy Rain, Beyond: Two Souls). Aber egal wie gut sie aussehen und wie glaubwürdig sie sich verhalten, sie hören nach dem Spiel auf zu existieren. Das tun Figuren in Büchern auch, aber ihnen wird oft vom Autor mehr Raum eingeräumt, sich mit ihren inneren und äußeren Dämonen auseinanderzusetzen, während das Spiel sich (zu?) schnell wieder an den Spieler wendet. Reale Film-Stars haben dann sogar noch Skandale, Hochzeiten, Kinder, Award-Shows und ein Leben. Das schafft für alle von uns, egal ob wir ihrem Leben nun aufmerksam folgen oder es einfach als das Leben anderer Leute ignorieren, einen einfacheren Bezug zu ihnen und sei es nur schlicht als andere Menschen.

An einigem davon wird sich wenig ändern lassen, es liegt zum Teil in der Natur des Spiels. An anderen Punkten jedoch hängt es an Entwicklern, wie auch Käufern und auch dem Bindeglied, uns Journalisten, es in eine andere Richtung zu bewegen. Wenn es denn gewünscht sein sollte. Call of Duty ist platt, unemotional und das schwache Äquivalent eines zweitklassigen Action-Films für heranwachsende Männer, sowohl in seiner Handlung als auch seiner Spiel-Inszenierung. Das Spiel selbst ist ok bis sehr gut, je nachdem ob man einen Solospieler oder ein Clan-Mitglied fragt, aber alles drum herum wäre in der Film-Welt keine zwei Worte wert. Das wäre kein Film, in den eine Familie geht, den sich Pärchen angucken und beide Spaß am Film haben können. Und sicher keiner, bei dem irgendjemand anschließend über die Natur des Bösen bei Clowns reden würde. Steven-Seagal-Ware, direkt aus der Videothek. Sicher, das kann Spaß machen, tut es oft auch, aber da ist kein Massenappeal, der es in das Feuilleton der New York Times heben würde.

Dies sind aber nun mal die erfolgreichsten, meistverkauften Spiele. Grand Theft Auto oder Tomb Raider sind da kaum besser. Sie sind gut. Für Spiele. Technische Meisterwerke, sicher, auf jeden Fall gut zu spielen, aber als gemeinsam erfahrbares, übergreifendes und verbindendes Erlebnis, das kulturelle Relevanz mit sich bringt, völlig ungeeignet. Wenn es einem Spiel gelingen würde, solch eigentlich total nerdigen Stuss wie Marines gegen Schlümpfe auf fliegenden Inseln zu einem übergreifenden Phänomen zu verwandeln, das Hundert Millionen Menschen oder mehr anspricht, das sie zusammen erleben können und die Erfahrung sie verbindet... Dann wird es die Relevanz bekommen, die universell besprochen wird. Wenn es vielen Spielen gelingt, dann werden die Roger Eberts der Spieleszene von allein folgen. Wenn sie nicht schon eh längst da sind, wenn ich da an ein paar Kollegen denke. Sie warten halt nur auf die richtigen Spiele.

Sie brauchen mehr Journeys. Und Journeys mit tollen Storys. Und Spiele, die sind wie Journey, nur ganz anders. Und solange Spiele-Entwickler nicht in radikal neue Richtungen denken, was Menschen, alle Menschen, an Filmen anspricht, und Käufer es belohnen, nachdem Kritiker ihnen sagten, dass es sich lohnt, wird der Sprung in den wirklichen kulturellen Mainstream sehr schwer werden. Kann mich nicht erinnern, je viele Steven-Seagal-Filmbesprechungen dort in der Diskussion gesehen zu haben.

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Martin Woger Avatar
Martin Woger: Chefredakteur seit 2011, Gamer seit 1984, Mensch seit 1975, mag PC-Engines und alles sonst, was nicht FIFA oder RTS heißt.