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Wreckateer – Test

Katapulte statt Schleudern, Steine statt Vögel, Goblins statt Schweine, 3D statt 2D, Kinect statt Fingerstrich.

Ich glaube, im geheimen Handbuch der Spiele-Entwickler gibt es ein Kapitel mit der Überschrift: "Alter Wein in neuen Schläuchen - Konzepte abkupfern leicht gemacht." Das kommt wahrscheinlich noch vor dem beliebten Essay "Fortsetzungen und Du - Drei Teile sind erst der Anfang." Jedenfalls steht dort bestimmt in irgend einem Absatz der Hinweis: "Jedes Ballistik-Spiel in 2D braucht mindestens eine Fortsetzung in 3D. Auch wenn die neue Perspektive das Zielen eines Projektils mit Parabel-Flugbahn enorm erschwert und das taktische Gameplay verwässert wird zugunsten der vermeintlich hippen Präsentation."

Viele Entwickler verfallen der Verführung der dritten Dimension. Manchmal kommt der "ver-räumlichte" Nachfolger von den Erfindern selbst - siehe Team 17 und Worms 3D. Manchmal schnappt sich auch ein anderer Entwickler das Erfolgsrezept und verpasst dem Klassiker ein dreidimensionales Äußeres. Iron Galaxy ist so ein Studio. Die haben sich für Wreckateer vom Kassenschlager und Platzhirsch Angry Birds mehr als nur ein bisschen "Inspiration" geborgt.

Kurz gesagt: Wreckateer ist Angry Birds in 3D auf der Xbox 360 - nur eben mit mittelalterlichen Katapulten statt Vögeln, Burgmauern statt Holzbrettern und Goblins statt Schweinen (auch wenn sich beide frappierend ähneln). Darüber hinaus wird mittels Kinect gesteuert.

Letztere Info könnte bei einigen Kamera-Sensor-Geschädigten vielleicht nervöse Zuckungen auslösen, deshalb lasst mich euch versichern: Die Steuerung des Arcade-Spiels ist erfreulich ausgereift. Erkennungsprobleme oder ähnliches konnte ich nicht feststellen. Der Sensor erfasste in meinem Test selbst kleinste Bewegungen und erlaubte dadurch sehr präzises Zielen. Intuitiv ist die Steuerung obendrein. (An dieser Stelle möchte ich auch auf Björns Tipps und Tricks -Artikel zur Kinect hinweisen)

Wreckateer - Gameplay-Trailer

Die Bedienung des Katapults kapieren selbst absolute Konsolen-Neulinge ohne Tutorial. Ein echtes Katapult funktioniert vom Prinzip nicht viel anders. Euer Avatar steht vor der Belagerungsmaschine, links davon liegt die verbliebene Munition. Zuerst geht ihr einen Schritt auf das Katapult zu, "ergreift" das Geschoss mit beiden Händen, tretet zurück und spannt dadurch den Bogen. Dies bestimmt die Schusskraft. Als nächstes wird der Schusswinkel und die Richtung über Seitwärtsschritte und das Heben oder Senken der Arme eingestellt. Hierfür braucht ihr genügend Platz - nach links und rechts solltet ihr vor einer Partie mindestens einen bis zwei Schritte freie Bahn schaffen. Reißt ihr nun eure Arme auseinander, saust die Kugel los.

Weniger realitätsnah ist, dass ihr die Flugbahn dezent korrigieren könnt, solange das Geschoss fliegt. Dazu wedelt ihr von links, rechts, oben oder unten gegen die Kugel, was ein wenig an die wilden Fuchteleien enthusiastischer Bowlingspieler erinnert. Im Gegensatz zum Kegelwurf hat das nachträgliche Wedeln aber tatsächlich einen Effekt und rettet so manchen vermurksten Schuss.

Zusätzlich gibt es, je nach Geschosstyp, noch besondere Effekte. Diese aktiviert ihr, indem ihr die Arme in einer V-Pose nach oben reckt. Dadurch klappen zum Beispiel Flügel aus der Kugel, die ihr dann mittels ausgestreckter Arme wie ein Gleitflugzeug steuern dürft. Oder ihr lasst das Teil mehrmals in der Luft "ditschen". Wieder ein anderes Geschoss explodiert auf Kommando. Dann gibt es eines, das bei Aktivierung einen Turbo startet und gleich mehrere Mauern durchschlägt. Ebenfalls praktisch ist eine Variante, die sich in vier kleine Brocken teilt, die dann mit beiden Armen gelenkt werden. Die Geschosstypen erinnern stark an ihre Pendants aus Angry Birds. Nur eben - zum Glück - ohne das typische Krächzen. Nebenbei sind in den Levels noch Symbole verteilt, die zusätzliche Punkte bringen, Geschosse beschleunigen, umleiten, sie beim Aufprall explodieren oder hüpfen lassen - so könnt ihr mehrere Effekte miteinander kombinieren und besonders viel Schaden anrichten.

Die Level machen eifrig Gebrauch von den Spezial-Manövern und fordern eine wache Denknudel, um die richtige Vorgehensweise für die maximale Punktzahl herauszufinden. Hilfreich ist dabei die Möglichkeit, durch eine Salutier-Bewegung den Level in einer Übersichts-Darstellung zu begutachten, sowie die freischaltbaren Wiederholungen, durch die man seinen letzten Schuss rückgängig machen darf (einfach linken Arm heben). In Sachen Komplexität können einige Level durchaus mit der Vogel-Ballerei gleichziehen, wobei die enthaltenen 50 Karten (plus 10 Extra-Levels mit interessanten Spezialaufgaben) natürlich längst nicht den Umfang eines Angry Birds bieten.

In einem Aspekt macht es Wreckateer den Spielern freilich leichter als Rovios Vorbild: Ihr braucht nicht unbedingt alle Goblins im Level erwischen, um weiterzukommen. Stattdessen müsst ihr einen bestimmten Punktestand erreichen, um in den nächsten Level zu dürfen. Eure Punkte richten sich nach dem angerichteten Schaden, den daraus resultierenden Multiplikatoren sowie einer Handvoll Errungenschaften, die man durch besondere Manöver abräumt. Prallt die Kugel zum Beispiel vor dem Ziel einmal vom Boden ab, erhaltet ihr Bonuspunkte. Das gleiche gilt für direkt getroffene Goblins, Massen-Explosionen, knapp überflogene Gebäude oder geplättete Bauernhäuser. All das bringt Extrapunkte und in der Summe eine Bronze, Silber oder Gold-Medaille. Um weiterzukommen, braucht es mindestens Bronze.

Einsteigern und Kindern bleiben durch diesen Umstand die typischen Frust-Momente erspart, die Angry-Birds-Veteranen nur zu gut kennen. Nichts treibt die Zornesröte schneller ins Gesicht, als jenes letzte kleine, fies grinsende, Schwein, das man einfach nicht plätten kann, weil es unerreichbar zwischen massiven Trümmern eingeklemmt wurde. Durch die Punkte-Lösung wird Wreckateer um einiges einfacher als das gefiederte 2D-Original. Ansonsten fallen erst gegen Ende des Spiels die Punktevorgaben hoch genug aus, um auch Könner ein bisschen ins Schwitzen zu bringen.

Die Präsentation des Titels ist insgesamt stimmig und weiß zu gefallen. Euch stehen zwei Kollegen namens Tinker und Wreck zur Seite, die vor jeder Runde in urigem Schotten-Englisch Tipps geben, neue Geschosstypen oder Symbole vorstellen und den ein oder anderen Schwank erzählen. Die Bildschirmtexte sind hingegen komplett in Deutsch. Die Optik kommt familienfreundlich und bunt daher. Ein Casual-Game wie aus dem Lehrbuch also.

Wreckateer - Trailer

Witzig sind auch die Goblins, die in extravaganten Kleidungsstücken auf den Burgmauern herumhüpfen. Von den flauschigen Rayman-Raving-Rabbids-Gedenk-Ohren über viktorianische Kleider bis hin zum coolen Man-in-Black-Anzug zücken die grünen Schweinenasen dabei einige skurrile Outfits. Besondere Schmunzel-Gefahr besteht, sobald man die grünhäutigen Störenfriede direkt erwischt. In einigen Leveln schweben beispielsweise Goblins an Ballonen herum, die sich nach einem Treffer wie Münchhausen verzweifelt an eure Kugel klammern. Der Meta-Humor kommt nicht zu kurz.

Während der Zerstörungsorgie offenbarten sich aber auch ein paar Schwächen. Ab und zu pfeifen die Türme buchstäblich auf Newtons Gesetze und bleiben stur stehen, obwohl man locker drei Viertel ihres Fundaments pulverisiert hat. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn selbst massive Steinmauern verpuffen einfach, wenn sie von einer Kugel getroffen werden. So grenzt es an Glücksspiel, ob ein kippender Turm jetzt benachbarte Gebäude mitreißt oder sich vorher in Staub auflöst. Außerdem werden die Level etwas eintönig, sobald man alle Spezial-Geschosse kennengelernt hat. Nur die zehn Bonus-Missionen brachten etwas Abwechslung. Hier müsst ihr besonders haarige Flugeinlagen absolvieren, Kugeln in Flipper-Manier von Metall-Mauern abprallen lassen oder möglichst viele Symbole ergattern.

Als kleines Zuckerl oben drauf gibt's einen Zwei-Spieler-Modus, bei dem man sich nach jedem Schuss abwechselt (nett: ihr dürft aus allen 60 Leveln frei wählen). Außerdem könnt ihr eine Art Playlist mit euren Lieblingskarten zusammenstellen. Das Spiel unterstützt überdies das Belohnungssystem Avatar Famestar, durch das ihr zusätzliche Extras für euren Avatar freischalten könnt.

Wreckateer ist derart gut gelungen, dass ich mich frage, weshalb Rovio Entertainment nicht schon längst seine verärgerten Vögel mittels Kinect fliegen lässt. Die Steuerung ist intuitiv und funktionierte im Test derart präzise, dass so mancher Kinect-Skeptiker durch den Titel neue Hoffnung schöpfen könnte. Die kleineren Macken bei der Physik-Engine trüben den runden Gesamteindruck kaum. Jedoch mangelt es akut an Abwechslung und die Level bieten für geschulte Ballistik-Profis keine echte Herausforderung. Da gäbe es Potenzial für Download-Content. Unter den restlichen Summer-of-Arcade-Titeln gehört Iron Galaxys kurzweilige Burg-Zerstörung trotzdem zu den besseren Kandidaten. Ich persönlich hatte seit Eckhard Kruses Ballerburg (anno 1987) nicht mehr so viel Gaudi beim Zerlegen einer Festung. Ein Blick auf die kostenlose Demo sollte auf jeden Fall drin sein. Für 800 Microsoft Points gibt's die Vollversion im XBLA-Marktplatz.

7 / 10

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