Yakuza 6 - Test
Irgendwann werden sie alle erwachsen. Sogar Kiryu.
Die längst überfällige breitenwirksame Anerkennung der Yakuza-Reihe im Westen war eine der erfreulichsten Erkenntnisse des an guten Nachrichten nicht gerade verhaltenen vergangenen Spielejahres. Aus "Hast du davon schon gehört?!" wurde ein wiederkehrendes Gesicht auf etlichen Toplisten, dessen später Aufstieg gleichsam auf stoischer Beharrlichkeit und einem narrativen Kniff fußte.
Als Prequel positionierte sich Yakuza Zero gemütlich am Anfang der zum Ballast herangewachsenen Zeitachse seiner halben Dutzend Vorgänger und umschiffte damit ein Problem, dem zu entgehen einer kontinuierlich erzählten Reihe eigentlich schlicht unmöglich ist. Die Entwickler waren nicht länger dem dichten Netz inhaltlicher Verflechtungen, sondern einzig einer auch für Außenstehenden nachvollziehbaren Prämisse verpflichtet: der nämlich, wie Kazuma Kiryus Reise in die japanische Unterwelt ihren Anfang nahm.
Statt der Bereitschaft, mühsam den komplexen Kanon der Yakuza-Reihe zu durchdringen, mussten die bislang eher zögerlichen Naturen unter euch nur noch einen Faible für unkonventionelle Spiele mitbringen. Insofern stehen die Chancen gut, dass Zero für viele den längst überfälligen Einstieg in ein jahrelang chronisch unterschätztes Universum markierte, und entsprechend groß dürfte die Versuchung sein, mit Yakuza 6 an dieser neu entfachten Leidenschaft anknüpfen zu wollen. Doch ist dies nicht länger das Kamurocho, das ihr kennengelernt habt.
Ein Schicksal, das ihr mit Kiryu teilt. Nach drei Jahren im Gefängnis und dem vergeblichen Vorsatz, nie wieder auch nur einen Fuß in den japanischen Rotlichtbezirk zu setzen, sind nicht nur die graumelierten Haare des breitschultrigen Ex-Knackis ein Indiz für sein fortgeschrittenes Alter. Ohne es zu ahnen, ist Kiryu zum Fossil geworden - sowohl in der digitalisierten Informationsgesellschaft als auch in den Reihen der Yakuza, die ihre Rückentattoos gegen BWL-Abschlüsse eingetauscht haben und Angelegenheiten inzwischen lieber mit Scheckbüchern als bloßen Fäusten regeln. Hüben wie drüben gibt keinen Platz mehr für ein Relikt wie ihn, sodass sich der Mittvierziger auf die übertragene Suche nach einem neuen Lebenszweck macht und dadurch in eine weitaus konkretere Spurensuche verwickelt wird.
Nach dreijähriger Funkstille taucht seine kaum volljährige Ziehtochter wieder auf - mit lebensbedrohlichen Verletzungen im Koma liegend und ihrem erst wenige Monate alten Sohn Haruto. Dessen Vater ausfindig zu machen und die Hintergründe des mysteriösen Autounfalls seiner Mutter aufzuklären sind wenig mehr als der emotional maximal aufgeladene Aufhänger einer vielschichtigen Geschichte, deren Wendungen zu diesem Zeitpunkt für niemanden abzusehen sind, weder für euch noch den gealterten Protagonisten auf dem Bildschirm. Mit ihrem üblichen Fingerspitzengefühl ziehen Yakuzas Autoren eine weitere Ebene nach der anderen auf und spannen dadurch ein immer engmaschigeres Netz aus Intrigen, Freundschaft und Menschlichkeit, ehe sie die Kazuma-Kiryu-Saga zu einem streitbaren, aber würdigen Ende führen.
Das klingt zunächst nach ihrem üblichen, virtuos ausgeführten Handwerk. Hinter dem der Yakuza-Serie eigenen Pathos verbirgt sich im sechsten Teil jedoch eine bodenständigere, menschliche Ebene als je zuvor. Auch im sechsten Teil werdet ihr im Kostüm eines sackhässlichen Kleinstadtmaskottchens eine Schlägerei anzetteln, Streunerkatzen mit einem Dutzend verschiedener Futtersorten in ein Cat-Café locken und ähnlich schrägen Beschäftigungen nachgehen, Entwarnung an dieser Front. Ihr werdet aber genauso spätnachts mit einem plärrendem Haruto auf dem Arm die halbe Nachbarschaft nach etwas Babymilch abklopfen, während ihr den schreienden Knirps bei Laune zu halten versucht.
Der selbst in einem Heim aufgewachsene Kiryu will den Dreikäsehoch vor einem ähnlichen Schicksal bewahren und ist bereit, alles für ihn aufzugeben. Diese Hilfsbereitschaft ist charakterisierend für den aufrichtigen, seinem moralischen Kompass bis ins offensichtliche Verderben folgenden Ex-Yakuza - seine kalkulierte Opferbereitschaft hingegen nicht. Ordnete er etwaige Zweifel bis vor Kurzem stets seinem Instinkt unter, richtet er sein Handeln nun am Wohlergehen Harutos aus. Der wohl stärkste Mann Japans, bezwungen von einem winzigen Bündel Menschlein, das noch nicht einmal in der Lage ist, seine Ausscheidungen für sich zu behalten.
Vor diesem Hintergrund und auch gemessen am fortgeschrittenen Alter seines Posterboys ist es daher nur folgerichtig, dass sich Yakuza 6 eine ganze Spur weniger überdreht gebart, als es etwa Zero im vergangenen Jahr tat, das einen argloseren Kazuma Kiryu in den wilden 80er-Jahren porträtierte. Teil 6 ist das bis dato zielstrebigste, fokussierteste Yakuza, damit zugleich aber auch eines der schmalsten. Lediglich ein spielbarer Protagonist, Kamurocho und das den Rotlichtbezirk kontrastierende Küstenstädtchen Onomichi als die einzigen zwei erkundbaren Schauplätze, weniger Minispiele als in früheren Teilen: Viele dieser Einschnitte mögen bewusste Designentscheidungen gewesen sein, um möglichst nah an Kiryus Geschichte zu bleiben und sein Finale nicht unnötig aufzublähen. Und obwohl ich diese Reihe überhaupt erst für ihren mit jedem Pixel zelebrierten Exzess lieben gelernt habe, kann ich nicht behaupten, dass ihr diese zurückgenommene Gestus nicht gut zu Gesicht stünde. Himmel, womöglich sollten wir einfach unsere Maßstäbe überdenken, wenn selbst bei einer Spielzeit zwischen 25 bis 60 Stunden zarte Kritik am Umfang eines Spiels laut wird.
Nur: Wir reden hier längst nicht ausschließlich von freiwilligen Einschnitten, sondern darüber hinaus von zahlreichen notwendigen Kompromissen, die mit dem Wechsel auf die potente neue "Dragon"-Engine einhergingen. Den Verlauf dieser Trennlinie zu bestimmen ist nicht immer leicht, doch kommen sich Vor- und Nachteile der neuen Engine nie so nah wie bei ihrem offensichtlichsten Erkennungsmerkmal: der Grafik. Mehr noch als das beschauliche Onomichi profitiert das neongetränkte Kamurocho von dem auf Anschlag gedrehten, ins Absurde gesteigerten Detailgrad. Reizüberflutung hat einen neuen Namen, wenn ihr jedes Produktetikett in einem Supermarkt entziffern und selbst die Getränkekarte vor einer Bar studieren könnt. Sega wollte nie die größte, sondern die dichteste virtuelle Stadt erschaffen und hat dieses Ziel mit der "Dragon"-Engine endgültig erreicht. Nur völlig im Griff haben die Entwickler ihr neues Baby noch nicht. Geschenkt sind die im Gegensatz zu früheren Spielen auf 30 Bilder halbierten FPS. Für ein in jeder Hinsicht cineastisches Spiel wie dieses wiegt das in schnelleren Szenen nahezu omnipräsente Tearing weitaus schwerer, das während ruhigerer Abschnitte von einem Kantenflimmern aus der Hölle abgelöst wird. In der Konsequenz wirkt Yakuza 6 unsauber, bisweilen regelrecht instabil.
Dieses Für und Wider spannt sich über weitestgehend alle relevanten Systeme und wenn die Eindrücke japanischkundiger Spieler (wo das Spiel bereits im Dezember '16 erschien) als Maßstab für den Rest der Welt herhalten, ist ausgerechnet Yakuzas Kernelement der größte Stein des Anstoßes: das Kampfsystem. Von Zeros vier vielseitigen Kampfstilen blieb lediglich ein einziger erhalten und obwohl die herrlich überdrehten, "Heat-Move" genannten Quasi-Finisher nicht im selben Maße zusammengedampft wurden, ist auch ihre Anzahl spürbar zurückgegangen. Obwohl selbst Segas Presseabteilung ihre liebe Mühe damit haben dürfte, Einschnitte dieser Größenordnung als "Neues Feature!™" anzupreisen, komplementiert diese Reduktion aufs Wesentliche grundlegend zurückgenommen den Ton des Serienfinales und - viel entscheidender - die mannigfaltigen Vorzüge der "Dragon"-Engine.
Kiryus Schlägen hat es ganz sicher nie an Wucht gefehlt, doch wo sie nun landen, bleibt kein Stein mehr auf dem anderen - und zwar buchstäblich. Mit lautem Schmatzen und schmerzverzerrtem Gesicht fliegen alle armen Teufel, die dummerweise in die ausgestreckte Faust des Ziehvaters laufen, in einem physikalisch zwar überspitzten, aber glaubhaften Bogen nach hinten und räumen alle Feinde auf dem Weg dorthin wie Pins auf einer Bowlingbahn ab. Ihr könnt den Straßenrowdys auch weiterhin Fahrräder über den Schädel ziehen oder zwei Dutzend Feinde wie Dominosteine fallen lassen. Yakuza ist sichtlich stolz auf sein Ragdoll-Verhalten sowie die Anzahl gleichzeitig darstellbarer Gegner und gibt euch ausreichend Möglichkeiten, diese beiden Vorzüge auf möglichst kreative Weise miteinander zu vermählen. Die Kämpfe finden weniger in verschachtelten Menüs und durch kontextsensitive Aktionen statt, sondern genügen sich vielmehr aus sich selbst heraus.
Ihr nutzt, was die Umgebung eben hergibt, und beginnt schließlich unweigerlich damit, eure Umwelt nebenher nach nützlichen Hilfsmitteln zu scannen. Jederzeit könnt ihr während eines Spaziergangs in eine Keilerei geraten, einen Gegner durch die Tür des gegenüberliegenden Kombinis (japanische 24/7-Supermärkte mit einer göttlichen Auswahl) kicken und in der dortigen Mikrowelle rösten, nur um unmittelbar danach noch flugs ein paar Fressalien zu kaufen. Yakuzas Mechaniken sind nicht länger autonome, nacheinander abgespulte Systeme, sondern greifen im sechsten Teil nahtlos ineinander, beeinflussen sich gar regelrecht. Kämpfe finden nicht mehr in instanzierten Bereich statt und sind genauso wenig durch Ladebildschirme vom Rest des Spiels getrennt wie das Betreten der zahllosen Gebäude oder alle anderen Aktivitäten. Alles ist permanent im Fluss - darin liegt der eigentliche Mehrwert der "Dragon"-Engine und Evolutionsschritt der Serie.
Yakuza 6 ist weder der beste Teil der Reihe noch ein übermäßig empfehlenswerter Einstieg in selbige - diese Qualitäten vereint das vergangene Jahr erschiene Prequel entschieden besser. Mehr noch: Nach Jahren des Ausreizens sind Segas Entwickler zwar endlich auf die ungleich kraftvollere "Dragon"-Engine umgestiegen. Doch obwohl dieser Schritt fraglos in eine aussichtsreiche Zukunft führen wird, ist er zum jetzigen Zeitpunkt auch mit Kompromissen verbunden, die einige Fans bereits als Rückschritt begreifen. Dass Kiryus letzte zugleich eine seiner kürzesten Reisen darstellt, liegt zuvorderst im Wechsel auf die neue Engine begründet.
Doch Yakuza 6: The Song of Life ist mehr als die Summe seiner Teile. Es ist zuallererst ein wehmütiger Abschied einer 13 Jahre und sieben Spiele lang währenden Reise. Ein letztes Mal hebt ihr mit alten Gefährten die Whiskygläser und flaniert durch ein Kamurocho, das sich für dieses Lebewohl noch einmal besonders schick herausgeputzt hat. Jede unscheinbare Seitenstraße, jede versiffte Kneipe ist für diejenigen unter euch, die Kiryus Weg bis hierher gefolgt sind, mit wohligen Erinnerungen verknüpft, die während des Spiels automatisch wie ein Film vor eurem inneren Auge vorbeiziehen. Nicht alle Charaktere erhalten die ihnen eigentlich zustehende Zeit auf der Bildfläche, doch zumindest für einen letzten warmen Händedruck reicht es in den allermeisten Fällen.
Über allem schwebt ein Schleier des Abschieds, der dieses Finale zwar nicht zum besten, aber zum emotionalsten, zum dichtesten und menschlichsten Yakuza macht. Dieser Hintergrund komplementiert den weniger ausschweifenden Umfang auf eine ganz eigene Art und nimmt ihn, sofern man sich darauf einzulassen bereit ist, in sich auf, sodass er darin zu verschwinden scheint. Vor allem aber ist Yakuza 6, oder genauer: die "Dragon"-Engine, gleichermaßen ein Schritt in die Zukunft und Ausdruck dessen, was Sega mit dieser Reihe von Anfang an erreichen wollte - ein Höchstmaß an Immersion und konkurrenzlosem digitalen Tourismus.
Was auch immer die Post-Kazuma-Kiryu-Ära bringen mag: Yakuza ist bereit dafür.
Entwickler/Publisher: Sega - Erscheint für: PS4, PS4 Pro - Geplante Veröffentlichung: 17. April 2018 - Getestete Version: PS4 - Sprache: Englisch (Text), Japanisch (Sprache) - Mikrotransaktionen: Nein