American McGee's Grimm
Von einem Tester, der auszog, das Fürchten zu lernen
Ein Vater namens American McGee hatte zwei Söhne, davon war der älteste, Alice, klug und gescheit, und wußte sich in alles wohl zu schicken, der jüngste namens Grimm aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen: und wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie »mit dem wird der Vater noch seine Last haben!« Wenn nun etwas zu tun war, so musste es der älteste allzeit ausrichten: hieß ihn aber der Vater noch spät oder gar in der Nacht Einnahmen zu holen, und der Weg ging dabei über den Spielemarkt oder sonst einen schaurigen Ort, so antwortete er wohl »ach nein, Vater, ich gehe nicht dahin, es gruselt mir!« denn er fürchtete sich nicht genug zu verkaufen.
Oder, wenn abends beim Feuer Geschichten von kreativen, aber verkaufsschwachen Spielen erzählt wurden, wobei einem die Haut schaudert, so sprachen die Zuschauer manchmal »ach, es gruselt mir!« Der jüngste saß in einer Ecke und hörte das mit an, und konnte nicht begreifen, was es heißen sollte. »Immer sagen sie: es gruselt mir! es gruselt mir! mir gruselts nicht vor der Veröffentlichung: das wird wohl eine Kunst sein, von der ich auch nichts verstehe, denn ich komme nur Häppchen-weise auf den Markt.« Frei nach Jacob und Wilhelm Grimm „Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen“
Was will uns diese kleine Parabel sagen? Erstmal hat American McGee in den letzten Jahren sehr unterschiedliche Spiele abgeliefert. Während Titel wie Alice oder Scrapland eher auf eine Hardcore-Community ausgerichtet waren und sich nur mittelmäßig verkauften, möchte der kongeniale Entwickler mit seiner neuen Reihe um die Grimm's Märchen eine größere, weniger anspruchsvolle Zielgruppe erreichen.
Zweitens gruselt es den meisten Spiele-Testern schon beim Namen American McGee, weil er sich mit seinen Aussagen und Selbstbeweihräucherung stets als Märtyrer der Spielebranche darstellt. Um sich vom amerikanischen Spiele-Konglomerat zu lösen, zog er deshalb gefrustet nach China, um dort ohne den Druck der allmächtigen Industrie zu produzieren.
In einem persönlichen Gespräch zu seinem letzten Titel Bad Day L.A. betonte er, dass Spiel eine politische Aussage, mehr Sarkasmus, mehr Witz und neue Ideen bräuchten – ein seltsamer Anspruch in einem Land, das Internet-Seiten von Menschenrechtsorganisationen sperrt. Aber auch ein Ansatz, der lobenswert ist, der sich allerdings bisher nicht wirklich in seinen Produktionen niedergeschlagen hat.
Auch sein Bad Day L.A. hatte große Ambitionen und schaffte es wirklich, Politik zum Thema zu machen. In seinem abgedrehten Action-Adventure nahm er bewusst die hysterische Sichtweise der Amerikaner ins Fadenkreuz und positionierte ein paar interessante Aussagen. Doch wie kann man eine solche, gewaltige Botschaft transportieren oder die Leute zum Lachen bringen, wenn das Ergebnis langweiliges Gameplay und schlechte Witze sind?
Nun also Grimm's Märchen. Weltliteratur. Zwei Deutsche, die, neben Hitler, jeder Amerikaner kennt. Kindergeschichten, die nur so von Brutalität und bösen Menschen strotzen. Und gleichzeitig ein Sinnbild für die Doppelzüngigkeit der Gesellschaft sind. In Textform Kulturgut, doch als Videospiel ein einfaches Entertainmentprodukt?
Ein Umstand, den er mit allen Mitteln bekämpfen will und bereit ist, auch das eine oder andere Kind zu opfern. Ja, in American McGee's Grimm sterben Kinder gleich Dutzendweise. Brutal, herzlos, oft sinnlos. Nicht in Worten, wie in der großen Vorlage, sondern in einer süßen Cartoon-Grafik, die dem Sterben nicht immer die Härte nimmt.