Die Eurogamer-Textwerkstatt: Anatomie eines Spieletests
Theorie, Praxis und der Spielraum dazwischen
Gewinn sie oder verlier sie für immer: Die Einleitung
Nach so viel allgemeiner Theorie wird es Zeit, etwas konkreter zu werden. Jeder Text hat eine Einleitung, also ist es wichtig, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Und gleich mal mit einem Vorurteil aufzuräumen. Es hat eben nicht jeder Text eine Einleitung. Jeder Text hat einen Anfang, keine Frage, aber nicht zwangsläufig Worte und Thema, die initial auf verschachtelten Wegen irgendwo hinführen müssen. In einem Videospiel-Text kann man wunderbar sofort in die Vollen gehen.
"Meine Güte, so eine Steuerung habe ich noch nicht erlebt!" "Wow, ist das ein schönes Spiel!" Sind das wirklich Einleitungen? Mehr erste Sätze, aber sie befördern den Leser sofort in das Geschehen und man steigt noch dazu mit einer sehr persönlichen Wertungssausage ein, auf der sich leicht aufbauen lässt. Sollte einem mal nicht einfallen, was man als großen, thematischen Überbau nutzen kann oder möchte, dann ist ein solcher Einstig meist das bessere Mittel.
Jedenfalls viel besser als die Kardinalsünde des Spieljournalismus, die ich einfach mal den "desinteressierten Nerd" nenne. "Beliebiger Titel 2 ist nun also die langerwartete Fortsetzung des Vorgängers aus dem letzten Jahr." Jedes Mal, wenn dieser Satz irgendwo auftaucht bin ich mir sicher, dass irgendwo auf der Welt ein Spielejournalist ein Million Gehirnzellen verliert. Es kann nicht mehr lange dauern, bevor unsere Gattung sich unter den Schimpansen einsortiert.
Diese Einleitung lässt sich offensichtlich wunderbar ausbauen und in vielen Fällen mit dem Satz "Wir werden uns ansehen, ob denn die Versprechungen der Entwickler stimmen." krönen. Was damit falsch ist? Erstens: Der Titel steht fest, ist bekannt und die Zahl dahinter ist definiert. Solange es nicht Patrizier 4 ist, bedarf es keiner Ansage, dass dies die Fortsetzung zum gleichnamigen Vorgänger darstellt. Man kann es sich denken. Zweitens: Ich will doch hoffen, dass sich der Text anguckt, ob Qualitätsversprechungen seitens des Entwicklers eingehalten wurden. Solange es nicht völlig außerweltliche Versprechen waren, die in sich humoristisches Potential bieten, ist es eine Vergeudung gegenseitiger Lebenszeit, sie aufzulisten und dem Leser zu übergeben.
Eine solche Einleitung zeugt von Desinteresse und niemand liest den Text eines Menschen, der mit einer solchen Einstellung herangeht. Stattdessen springt der Leser gleich zum Fazit, überfliegt es kurz und der restliche Text war zum großen Teil eine Übung in Vergeblichkeit. Man darf nie vergessen, dass es praktisch unendlich viele Texte im Internet gibt und der Leser muss in diesem ersten Absatz überzeugt werden, dass der eigene Text derjenige ist, dem er jetzt seine Aufmerksamkeit widmen soll.
Das muss nicht in Schlagzeilenreißerei in fünf Worten ausarten. Einen Absatz hat man Zeit, aber mehr nicht. Insoweit ist dieser eine Absatz, diese 10 bis 15 Zeilen, der wichtigste Teil eines Tests nach dem Fazit. Das Fazit lesen sie alle, die Einleitung die allermeisten. Ob der Teil in der Mitte zu seinem Recht kommt, hängt allein davon ab, wie man die ersten Zeilen gestaltet.