Lips
Jeder mit Lippen kann singen
Ich kann nicht singen.
Jeder, der mich kennt und hört, weiß das. Trotzdem singe ich natürlich wie jeder normale Mensch gerne, wenn auch vornehmlich allein und dort, wo andere es nicht ganz so belästigt. Schließlich würde man meine Gesangesleitung nicht loben und würdigen.
Die Zeiten der Ablehnung sind jetzt aber vorbei, denn ich habe einen neuen besten Freund, der meine Versuche, Töne zu treffen, klasse findet, lobt und belohnt. Lips überschüttet mein Untalent geradezu mit Achievements, Punkten und Sternen. Und macht damit klar, was es nicht ist: Ein ambitioniertes Hardcore-Karaoke-Programm, in dem echte Sangesmeister zeigen, was es heißt, Punkte durch perfekte Imitation zu erzielen.
Bei Lips dagegen haben nicht nur untalentierte Sänger eine Chance, ab einem gewissen Punkt fragt man sich schon, was genau denn hier vom Programm ausgewertet wird. Den Teppichtest unserer englischen Kollegen kann ich bestätigen. Rubbelt einfach mit dem Mikro auf der Couch herum und erzielt hohe Scores. Legt es neben einen Käfig riemiger Meerschweinchen und schon denkt Lips, Dido wäre auf einen Sprung vorbeigekommen. Jodelt und gurgelt fröhlich zu Take On Me und ein paar hunderttausend Punkte wird es schon bringen.
„Dann stell doch die Schwierigkeit hoch!“. Würde ich ja gerne, nur gibt es keine Schwierigkeitsgrade in Lips. Oder Stufen, Level oder irgendeine andere Form, in die normalerweise Spielkonzepte gepresst werden. Die Tonhöhe läuft als Balken durch, darunter hüpft der Ball über die Textzeilen. Der Aufbau innerhalb der Songs ist wohl bekannt, das Drumherum der Leistungsprüfung fehlt hier aber komplett.
Ihr habt 1,5 Millionen Punkte bei Major Tom? Herzlichen Glückwunsch, bedeuten tut es nicht viel, scheitern und vorzeitig aus dem Song fliegen konntet Ihr eh nie. Es gibt hier nichts, was Euch bestrafen würde, nur Belohnungen werden verteilt. Die Endstufe des antiautoritären Musikspiels wurde erreicht. Auf dieses eigentlich harte Urteil über Lips folgt jetzt nicht der Verriss, den Ihr vielleicht erwarten würdet. Es steht zwar in direkter Konkurrenz zum wesentlich anspruchsvolleren SingStar, aber nicht auf eigenen Wunsch hin.
Die Idee von Lips geht in eine Richtung, die unseren Bundesdrogenbeauftragten gar nicht behagen dürfte. Lips lebt von der Kombination aus Geselligkeit, freizügiger Getränkeausgabe und dem fast zwangsweise später folgendem Wunsch, gemeinsam zu singen. Ein Ritual, so alt wie die Menschheit selbst. Und hier funktioniert Lips ganz gut. Nehmt ein Mikrofon in die Hand und legt los. Keine Vorkenntnisse erforderlich, kein Leistungsdruck und sollte der Text bekannt sein, braucht man eigentlich nicht mal auf den Screen zu gucken, denn was dort an Punkten verteilt wird, interessiert sowieso keinen. Noch mehr Partycasualität ist wohl kaum vorstellbar. Und was soll's, es macht Spaß. Dies ist die Gewinnerseite von Lips, zumal jeder irgendwas tun darf.
Sind die Mikros vergeben, kann der Rest zumindest mit den Pad irgendwelchen Blödsinn machen. Auf die Tasten wurden Klatsch und Trommelgeräusche verteilt, die zwar nicht unbedingt zu den Songs gehören oder passen, aber immerhin sitzt man nicht gelangweilt rum und wartet ungeduldig lauschend.
Im Hintergrund habt Ihr die Wahl zwischen den Originalvideos in anständiger Qualität oder einem generierten Clip, für den Peter Gabriel in den 80ern wahrscheinlich Preise eingeheimst hätte. Heute wirken die gezeigten Figuren in Stereofarben sehr Retro. Über Geschmack lässt sich streiten, mir persönlich gefällt es als Abwechslung, genug Leute werden es lieben oder hassen. Gleiches gilt auch für die Musikauswahl, die Ihr hier in Ihrer ganzen Glorie bewundern dürft. Drücken wir es so aus: Für jeden müsste was dabei sein. Vielleicht. Und wenn nicht, dürft Ihr ja eigene Songs importieren, bevor Ihr den Weg in den kostenpflichtigen Onlineshop antretet.