Nostalgie und Zweiter Weltkrieg: Was die Geschichte von Syberia: The World Before ausmacht
Mit Syberia: The World Before erscheint demnächst ein neuer Teil der Adventure-Reihe, wir sprachen mit Lead Writer Lucas Lagravette.
Die Adventure-Reihe Syberia hat bereits einige Jahre auf dem Buckel. Im Jahr 2002 erschien der erste Teil, der zuletzt veröffentlichte dritte Teil kam 2017 auf den Markt. Erdacht wurde die Reihe vom belgischen Autor und Comiczeichner Benoît Sokal, der in diesem Jahr verstorben ist. Bis zuletzt arbeitete er am neuesten Teil der Reihe, Syberia: The World Before, der am 10. Dezember 2021 auf den Markt kommen soll.
Wie groß sein Verlust für die Zukunft der Reihe ist, wie sehr er daran beteiligt war und was The World Before ausmacht, wollte ich von Lucas Lagravette wissen. Lagravette ist Autor, Dialogschreiber und Lead Writer des neuen Syberia-Teils, zuvor arbeitete er bereits am dritten Teil der Reihe und lernte im Zuge dessen Benoît Sokal kennen.
Eurogamer: Auf welche Kernelemente konzentriert sich die Geschichte des Spiels, was möchtet ihr damit vermitteln?
Lucas Lagravette: Nun, Benoît Sokal hat immer gesagt, dass das Kernthema von Syberia das 20. Jahrhundert war - er hat die Serie geschaffen, um durch Kunst, Fiktion und mit einem, wie er es nannte, "Abstecher von der Realität" seine Wahrnehmung dieses speziellen Moments der menschlichen Geschichte auszudrücken.
In den ersten beiden Spielen ging es meiner Meinung nach um die Dämmerung dieses Jahrhunderts in Europa und darum, wie sich Zombie-Elemente wie die Automatisierung oder Überbleibsel der UdSSR gegen das 21. Jahrhundert zur Wehr setzten. Nostalgie war in der Tat ein elementarer Bestandteil von Benoîts Stil. Auch in Syberia 3 ging es darum, aber auch um den Zusammenprall zwischen den um ihr Überleben kämpfenden Traditionen von Minderheiten und der brutalen, erzwungenen Modernisierung. Und darum, wie die Fehler des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel nukleare Zwischenfälle, das 21. Jahrhundert verderben und beeinträchtigen könnten.
Syberia: The World Before beschäftigt sich ebenfalls mit diesem Thema. Aber es verlässt den Osten, um Mitteleuropa zu erkunden und damit den wahrscheinlich dunkelsten Moment des 20. Jahrhunderts: den Zweiten Weltkrieg, aber auch seine Vor- und Nachwehen.
Vor allem aber erlaubte uns die düstere Thematik des Zweiten Weltkriegs, zu versuchen, unsere Charaktere auf eine reifere Art zu schreiben. Syberia war immer die Geschichte von Kate Walkers Emanzipation. Und für diese Episode wollten wir, dass sie mit intimeren Themen kämpft, und zwar auf eine introspektivere Art. Wie du vielleicht im Prolog gesehen hast, hat sie zu Beginn des Spiels einen sehr tragischen Verlust erlitten. Und jetzt muss sie sich davon erholen, aber auf Kates ganz eigene Art: indem sie ihrem Instinkt folgt und eine traumhafte Aufgabe verfolgt, die im Grunde alle um sie herum glauben lässt, dass sie den Verstand verloren hat. Aber das hat sie nicht. Sie ist einfach frei. Aber diese Freiheit hat ihren Preis - Einsamkeit und manchmal auch das Verletzen anderer. Ich denke, das ist es, was wir mit Kates Erzählstrang in dieser Episode vermitteln wollten: Sie kämpft mit einem intimen Schock, versucht, sich davon zu erholen. Sie stellt sich aber auch die Frage, welche Auswirkungen diese intime Suche auf die Gefühle anderer und auf ihre eigene Vergangenheit hat - einer Vergangenheit, der man nie wirklich entkommen kann, weshalb man sich ihr besser stellt und versucht, damit umzugehen, um schließlich in der Lage zu sein, sein Leben weiterzuführen.
Deshalb war unsere neue spielbare Figur, Dana Roze, so wichtig für uns. Dana ist nicht die Hauptfigur des Spiels - das ist zweifelsohne Kate -, aber sie ist die zentrale Figur. Und da man sie in sehr wichtigen Momenten ihres Lebens spielen wird, dachten wir, dass es dem Spieler das Gefühl geben würde, die Vergangenheit zu schreiben, während Kate sie Jahrzehnte später aufdeckt. Ich glaube, Benoît hat Dana gewissermaßen als eine Allegorie auf das Europa des 20. Jahrhunderts erschaffen.
Eurogamer: Die Story wurde von Benoît Sokal und dir geschrieben. Kannst du ein wenig beschreiben, wie ihr dabei im Bezug auf Ideenentwicklung und Ausarbeitung vorgegangen seid beziehungsweise euch ergänzt habt?
Lucas Lagravette: Als Schöpfer der Serie brachte Benoît das Konzept auf den Tisch. Es war ein Dokument von etwa zehn Seiten, mit Ideen und Absichten in verschiedenen Entwicklungsstadien. Die meisten davon sind immer noch im Spiel. Unser Arbeitsablauf war recht einfach. Wir trafen uns in der Schreibwerkstatt, meistens mit einem Produzenten von Microids, um diese Ideen weiterzuentwickeln und zu versuchen, sie alle in eine einheitliche Geschichte zu verwandeln. Benoît hat viel skizziert und seine Absichten erklärt, während ich Ideen einbrachte, die wir dann diskutierten und infrage stellten.
Wenn ich also schematisieren müsste, würde ich sagen, dass Benoît - der das Recht auf den "final Cut" bei der Geschichte hatte - für die Vision auf höchster Ebene verantwortlich war; er sollte sicherstellen, dass es die Seele hatte, die wir ihr in dieser Episode einzuhauchen versuchten - aber auch die, die er für die gesamte Serie entworfen hatte. Benoît war die Art von Schöpfer, der sich Momente ausdachte, die das Spiel einzigartig machen würden, und dann die Geschichte darum herum entwickelte. Ich hingegen bin eher ein Struktur-Typ - ich beginne mit dem Thema, dem Einsatz der Charaktere und arbeite dann von dort aus. Diese Momente, die Benoît geschaffen hat, waren also pures Gold für mich. Denn sie waren nicht nur großartig, sondern gaben mir auch eine Art Orientierungshilfe, wie Punkte, die ich verbinden musste, um die Geschichte zu gestalten, wie ein Netz. Und auf diese Weise kamen mir neue Ideen, die ich Benoît vorlegte. Wir haben sie dann infrage gestellt und der Zyklus begann von vorne. Und wir brachten beide unsere Inspirationen und Einflüsse ein, was meiner Meinung nach zu einer sehr einzigartigen und interessanten Mischung führte (wie viele Spiele können von sich behaupten, dass ein und dieselbe Szene sowohl von dem Film Casablanca als auch von der Fernsehserie The Leftovers inspiriert wurde?).
Und so ging ich am Ende des Tages mit tonnenweise Notizen nach Hause und formulierte sie zu einem Treatment, einem Dokument, das die Geschichte mit einem ziemlich hohen Detailgrad zusammenfasst. Wenn ich mich recht erinnere, musste der erste Entwurf etwa 130 Seiten umfassen. Den Rest der Zeit kümmerte sich Benoît um die Künstler, während ich mit unserem Designteam daran arbeitete, Spielmechaniken und einen Spielablauf zu entwickeln, der es ermöglichte, die Geschichte zu erzählen, die wir geschrieben hatten - die wir beide sehr liebgewonnen haben, wie ich glaube.
Eurogamer: Du hast bereits an Syberia 3 gearbeitet. Was hast du dabei gelernt, was du jetzt bei Syberia: The World Before übernimmst oder anders machst?
Lucas Lagravette: Zunächst einmal möchte ich sagen, dass sehr fähige Leute an Syberia 3 gearbeitet haben. Ein paar dieser Leute sind für Syberia: The World Before geblieben, ich auch, und wir wurden alle zu Leitern des Projekts befördert. Mit der Hilfe erfahrenerer Produzenten haben wir versucht, ein anderes System für die Produktion von Syberia: The World Before zu entwickeln. Auch das war kompliziert und wir müssen die Dinge weiter verbessern, denn im Vergleich zu größeren - und wohlhabenderen - Studios sind wir noch weit davon entfernt, perfekt zu sein, aber es wurden Verbesserungen vorgenommen, und ich hoffe, dass wir in dieser Richtung weitermachen werden.
Und wenn du es mir gestattest, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um all jenen zu danken, die an Syberia: The World Before gearbeitet haben oder derzeit daran arbeiten. Dieses Projekt gab mir die Gelegenheit, mit erstaunlichen Leuten zusammenzuarbeiten - angefangen bei dem unglaublichen Team von Game-, Narrative- und Level-Designern, aber auch Cutscene-Artists und Dev-Testern, mit denen ich täglich zusammenarbeite. Ich würde am liebsten jeden einzelnen nennen, der einen Beitrag zum Spiel geleistet hat. Aber da ich das nicht kann, hoffe ich, dass sie alle diesen Artikel lesen und wissen, wie dankbar und anerkennend ich für ihre Arbeit bin. Syberia: The World Before würde ohne sie einfach nicht existieren.
Eurogamer: Wie sieht deine Vergangenheit mit Syberia vor Teil drei aus? Warst du ein Fan davon und was bedeutet die Reihe für dich?
Lucas Lagravette: Ich war ein großer Gamer, der Drehbuchautor werden wollte. Und eines Tages, als ich mein Studium beendete, wurde mir klar, dass ich beides kombinieren könnte. Ich will ehrlich sein: Ich wusste, dass Syberia ein Klassiker ist, aber ich war ungefähr zwölf Jahre alt, als der erste Teil herauskam (was Benoît sehr amüsiert hat). Zu dem Zeitpunkt war ich zu sehr damit beschäftigt, immer wieder Metal Gear Solid 2: Sons of Libery zu spielen. Also habe ich sie damals nicht gespielt. Allerdings hatte ich The Amerzone gespielt (und geliebt). Wie dem auch sei, ich habe die ersten beiden Teile von Syberia im Jahr 2013 gespielt, vor meinem Vorstellungsgespräch, nachdem ich mich für die Trainee-Stelle Game Writer und Game Designer bei Syberia 3 beworben hatte. Ich habe das Praktikum bekommen und bin seitdem nicht wieder gegangen. Und jetzt ist Syberia einfach ein sehr wichtiger Teil meines Lebens geworden.
Eurogamer: Wie sehr unterscheiden oder ähneln sich Kate Walker und Dana Roze, was macht beide aus?
Lucas Lagravette: Nun, ich denke, ich habe diese Frage bereits größtenteils beantwortet. Aber ich könnte noch hinzufügen, dass das wirklich Interessante an diesen Figuren ihre unterschiedlichen Perspektiven sind. Du spielst Kate, die damit kämpft, ihr Leben zu verstehen, die Entscheidungen, die sie getroffen hat, und deren Konsequenzen. Sie blickt sozusagen in sich hinein und zurück. In der Rolle von Dana hingegen spielt man eine Figur, die darum kämpft, sich ein Leben aufzubauen, und sie schaut über sich hinaus und auf das, was vor ihr liegt. Zu Beginn des Spiels ist Kate in einer schlechten Verfassung, während Dana viel spontaner und lebensfroher ist. Und beide werden sich im Laufe des Spiels weiterentwickeln.
Eurogamer: The World Before spielt 1937 und 2004, dazwischen liegt eine Menge Zeit. Spiegelt sich das im jeweiligen Verhalten oder in den Dialogen der jeweiligen Zeitperiode wider?
Lucas Lagravette: Ja, wir haben sehr darauf geachtet, dass sich die verschiedenen Epochen im Spiel unterscheiden. Wir haben viel mit Benoît und Paul C.R. Monk, unserem englischen Autor, der die meisten Dialoge und Dokumente im Spiel verfasst hat, darüber nachgedacht, wie jeder Charakter im Spiel sprechen sollte, abhängig von seinem Hintergrund, der Zeit und seiner Nationalität. Dank des Inputs von Antoine Babary, unserem Audio Director, und Paul-Eli Hamou, unserem Audio Producer, haben wir beschlossen, dass die Charaktere aus Osterthal - dem kleinen Land, das wir erschaffen haben und das irgendwo zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz liegen soll - einen britischen Akzent haben sollten anstatt eines deutschen, denn das hätte auf Dauer etwas ermüdend werden können.
Übrigens: da ich gerade mit Eurogamer spreche, möchte ich die großartige Arbeit unserer Übersetzungsteams würdigen - und ich möchte mich besonders bei Tanja Braun, unserer deutschen Übersetzerin, bedanken.
Eurogamer: Bis zum Release dauert's noch ein wenig, aber ihr habt kürzlich bereits den gamescom-Award für das beste PC-Spiel des Jahres erhalten. Was bedeutet dir das?
Lucas Lagravette: Nun, wie du erwähnt hast, werden auf der gamescom Spiele ausgezeichnet, die noch nicht veröffentlicht sind. Wir nehmen diese Auszeichnung also nicht als selbstverständlich hin. Es ist eine große Ehre und eine große Ermutigung, aber für mich ist das Rennen erst dann zu Ende, wenn das Spiel veröffentlicht wird, und ich hoffe, dass die Öffentlichkeit das Spiel auch warm und positiv aufnehmen wird, wenn es erst einmal erhältlich ist.
Eurogamer: Benoît Sokal ist im Mai leider verstorben. Inhaltlich dürfte sich das auf das Spiel wohl nicht mehr viel auswirken, aber wie schwer wiegt sein Verlust für die Zukunft der Serie?
Lucas Lagravette: Der Tod von Benoît war in der Tat ein schrecklicher Verlust, natürlich für die Produktion, aber auch auf einer persönlichen Ebene. Ich denke hier besonders an seine Frau Martine und seine beiden Söhne Hugo und Jules. Aus Respekt vor ihnen verstehst du sicher, dass ich nicht ins Detail gehen werde. Aber ich denke, ich kann dir sagen, dass Benoîts Vision bis zum Schluss respektiert und geehrt wurde.
Abschließend kann ich nur sagen, wie sehr ich mich geehrt fühle, dass ich mit Benoît zusammenarbeiten konnte. In diesen Jahren haben wir uns besser kennengelernt, auch wenn unsere Beziehung manchmal ziemlich angespannt war. Durch Syberia: The World Before sind wir uns näher gekommen, dank einiger Personen, die aktiv daran mitgearbeitet haben - sie werden wissen, dass sie gemeint sind - und dank der wunderbaren Geschichte, die sich Benoît ausgedacht hat. Eine Geschichte, die mich zutiefst berührte - und Benoît war so großzügig, mir darin ein wenig Platz einzuräumen.